Ulrike Lorenz schreibt über die erinnerungspolitischen Wechselwirkungen zwischen Weimar und Wartburg als herausragende Symbolorte des deutschen Kulturerbes. Am Beispiel der programmatischen Neuorientierung der Klassik Stiftung Weimar gibt sie Impulse zur geschichtskritischen Vermittlung ambivalenter Mythen in der gegenwärtigen Zeit. Der Blogbeitrag der Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar ist für die Wartburg-Stiftung und ihrer 2024 geplanten Publikation „Wartburg.Sichten“ entstanden.
Grenzbegriff der Arbeit am Mythos wäre,
diesen ans Ende zu bringen,
die äußerste Verformung zu wagen,
die die genuine Figur gerade noch oder
fast nicht mehr
erkennen lässt.
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos [1]
I. Deutsche Mythen und kein Ende
Wartburg und Weimar sind Erfindungen des 19. Jahrhunderts. Historisches Wahrzeichen und geistige Topographie – beide wurden aus verschieden guten Gründen zu Symbolorten deutscher Geschichte und Kultur kanonisiert und inszenieren sich bis heute erfolgreich. Weniger als nationalkulturelle Ikonen, denn als Welterbestätten und touristische Attraktionen ziehen sie ein Millionenpublikum an. Dieser seit zwei Jahrhunderten und über alle gesellschaftlichen Umbrüche hinweg anwachsende Effekt gründet in nichts als – Geschichten. Erzählungen über eine ferne, legendenhaft-mittelalterliche Vergangenheit und eine mit dem Todesjahr der konstituierenden Weimar-Figur Goethe 1832 kaum vergangene Gegenwart. Von den noch jungen Geisteswissenschaften Historiographie und Germanistik entworfen und für eine spezifische zeitgeschichtliche Konstellation zugerichtet, verfestigten sie sich zügig zum Zentralnarrativ der deutschen Kulturnation.
Dieses eingängig verkürzte, sich auf beliebte Schriftsteller und historische Quellen stützende Konzept wurde über das tonangebende Bildungsbürgertum hinaus in den Splitterstaaten deutscher Zunge aufgegriffen – als symbolische Kompensation für die nach den napoleonischen Befreiungskriegen verhinderte nationale Einheit und für eine in der bürgerlichen Revolution 1848 gescheiterte Demokratie. Es war für die Nation ohne Staat, die sich nicht allein über eine Sprache, sondern auch durch Geschichte, Kunst und Bildung definieren sollte, Balsam auf die Seele. Als säkularisierte Mythologie sicherte es den politischen Kräften der Moderne kulturelle Legitimität.[2] Die verspätete Nation der zerrissenen Deutschen in Europas Mitte erfand sich damit nicht nur eine mythische Vergangenheit, sondern auch die exklusive Tradition kultureller Höchstleistungen, allen voran in Literatur und Philosophie, die schließlich auch in geistige Überlegenheitsphantasmen und einer staatspolitischen Verheißung mündete. Hier nun liegt der Geburtsfehler der „Kulturnation“, der den Umgang mit ihr bis heute vergiftet. Die gewagte Ideenkonstruktion von Historikern und Germanisten setzt Normen und löst Wertediskurse aus – und kann daher leicht zu Intoleranz verführen, weil die Deklassierung anderer Kulturen in Kauf genommen oder bewusst betrieben wird. Genau dies erwies sich als elastisches Sprungbrett nicht nur für die nationalen Ambitionen im demokratisch-liberalen Spektrum, sondern – nach Vollstreckung der Staatseinheit der Deutschen – auch zu toxischen Steigerungskaskaden nationalistischer Ideologien bis hin zum kultur- und menschenvernichtenden Finale des Nationalsozialismus.
Die immanente Spannweite des theoretischen Konstrukts ließ es gesellschaftlich wirksam werden und Fakten schaffen. Die imaginierte weltbeste Kulturnation – und damit auch die Gedächtnisorte Wartburg und Weimar – erhielten eine klare Zukunftsperspektive, die klassenübergreifend Sog entfaltete: den deutschen Nationalstaat als reale Weltmacht. 1871 wurde dieser in Gestalt einer konstitutionellen Kaisermonarchie tatsächlich Realität, allerdings nur in der kleindeutschen Version unter preußischer Oberleitung. In Konkurrenz zu alteingesessenen Weltmächten begann das Deutsche Reich erst jetzt den imperialistischen Wettlauf um Weltmärkte, Militärvormacht, Kolonien und kulturelle Hegemonie. Die zeithistorische Verspätung erzeugte Kompensationsüberdruck, dem nur durch weiter aufgerüstete Erzählungen zu Herkunft und Zukunft abzuhelfen war. Daher luden sich auch die narrativen Kerne der Erfolgsstory „Kulturnation“ nationalistisch und rassistisch auf, teils bis zur Unkenntlichkeit. So blieben die strapazierfähigen Erzählungen Wartburg und Weimar in weiteren Ausformungen mit den Radikalumstürzen und -aufspaltungen des 20. Jahrhunderts der Extreme bis über die Wiedervereinigung der Deutschen hinaus eng verflochten. Und sie bieten am Beginn des neuen Jahrtausends – in der mühsamen Aufarbeitung des Zivilisationsbruchs der Nationalsozialisten intellektuell schärfer und selbstreflexiv geworden – noch immer sinnstiftende, vielleicht gar wegweisende Anschlussstellen für eine auf Kultur und Bildung, kritisches Geschichtsbewusstsein und liberale Demokratie gegründete Gestaltung einer krisengeschüttelten Gegenwart und gefährdeten Zukunft im Anthropozän.
Kurz: Ideale Höhenburg und geheime Kulturhauptstadt der Deutschen sind Memorialkonstruktionen des 19. Jahrhunderts. Einst Antwort auf politische Mangellagen – fehlende nationale Einheit und verweigerte demokratische Freiheiten –, vermögen sie erstaunlicherweise auch in unserer fundamental veränderten Jetztzeit essentielle Sehnsüchte vieler Menschen auf sich zu vereinen. Das ist die Nagelprobe für Mythen von robuster Lebendigkeit. Im Kern gestützt auf materielle Kronzeugen, seien es massive Stadt-, Burg- und Dichterdenkmäler oder die disparaten Sammlungen in Archiven, Bibliotheken und Museen, wuchern und ranken die Narrative fort. Seit 200 Jahren entzünden sich an Wartburg und Weimar nicht nur Imagination und Verantwortungsbewusstsein nachwachsender Generationen, sondern auch deren notwendige Tatkraft, diese widersprüchliche Erbschaften, in denen sich Materielles und Immaterielles, Überrest und Tradition unlösbar amalgamieren, unter Aufwendung erheblicher finanzieller und mentaler Ressourcen zu bewahren, zu erschließen, zu vermitteln und lebendig zu halten, was heißt: anschlussfähig für relevante Umwelten, antwortfähig auf junge Menschen mit ungeahnten Bedürfnissen und Begabungen, auf andere gesellschaftliche Herausforderungen und erweiterte wissenschaftliche Theorien. Damit lagern sich naturgemäß immer wieder neue programmatische Sinnüberschüsse an. Doch – eingedenk der ausgrenzend-abwertenden Ideologiegefahr normativer Narrative – gilt es diese jetzt für eine Weltgesellschaft in fragilen planetarischen und politischen Verhältnissen gewitzt gegen den Strich zu bürsten.
Es sind zwei Kulturinstitutionen, die dafür heute Verantwortung tragen: die Wartburg-Stiftung Eisenach und die Klassik Stiftung Weimar. Als Treuhänder der gesellschaftlichen Auftrag- und Geldgeber sichern sie nicht nur den Bestand an materiellen Zeugnissen vom Mittelalter bis heute, darunter palimpsestartige Riesenbaukomplexe und hunderte Hektar lebendiger Parklandschaften oder die originalen Handschriften eines vergilbenden Kanons klassischer deutscher Literatur. Sie sind auch dazu aufgerufen, ihre inhärente Geschichtsbesessenheit bewusst im Heute zu verankern und auf ihren Aufklärungsauftrag auszurichten, um die komplizierte, doch instruktive Geschichte der nationalpolitischen Memorialkonstruktion des 19. und 20. Jahrhunderts – ein mythenstrukturierendes Narrativ sui generis – durch kritische Dekonstruktion kenntlich und nutzbar zu machen.
Vor allem auf diesem Hochspannungsfeld ringen wir um ein zeitgemäßes Selbstverständnis, breitenwirksame Legitimation und tragfähige Zukunftskonzepte. Über Hans Blumenberg hinaus ist nämlich zu sagen, dass die Überfülle und Last der Rezeption ihre verstörende Gegenwärtigkeit nicht nur aus der Unmöglichkeit bezieht, den Auftrag zu erfüllen oder abzulehnen.[3] Wir sind auch prinzipiell nicht in der Lage, den allerdings aus eigener Kraft bis in die äußerste Verformung fortzuschreibenden Mythos zu Ende zu bringen, weil es weder in Kunst, Literatur und Philosophie, noch in Geschichtsschreibung, Erinnerungskultur und Denkmalpflege ein letztes Wort je geben kann, jedenfalls solange die Spezies Mensch atmet und denkt.
II. Symbolpolitik Erinnerungskultur
Wartburg und Weimar. Diese Symbolorte gründen – indirekt der eine, unmittelbar der andere – auf kontingenten wie effektvollen Personalentscheidungen und Erziehungsmaßnahmen einer aufgeklärten Souveränin in Weimar im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts: Anna Amalia, Herzoginmutter und Vormundschaftsregentin ihres Sohnes und Goethe-Freundes Carl August. Vor allem aber verdanken sie sich der kalkulierten und leidenschaftlichen Memorialpolitik des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach im 19. Jahrhundert. Und wiederum sind es zwei sorgfältig ausgebildete, kulturell mehrsprachige Landesfürstinnen, die richtungsweisende Erinnerungsmaßnahmen initiierten und aus ihren europäisch dimensionierten Erbschaften finanzierten: Maria Pawlowna Romanowa, russisch-deutsche Zarentochter, und Sophie von Oranien-Nassau, Prinzessin der Niederlande. Maria Pawlowna legte mit der Enfilade der Dichterzimmer im Weimarer Residenzschloss den Grundstein für die spezifisch ideengeschichtliche Weimarer Erinnerungskultur. Die Folge theatralischer Bilderhöhlen mit Literaturillustrationen von Malern zweiter Klasse wurde die erste öffentliche Weihestätte für das klassische Viergestirn Wieland-Goethe-Herder-Schiller. Die Nachfolgerin Sophie konstituierte, nachdem ihr der schriftliche Nachlass Goethes vererbt worden war, mit einer einsichtigen Erwerbungspolitik das Goethe- und Schiller-Archiv als Prototyp des Literaturarchivs für eine ganze Epoche. Und sie lieferte mit der ersten wissenschaftlich-kritischen Gesamtedition der Werke des zum Nationaldichter teutonisierten Goethe auch den sich formierenden Disziplinen Germanistik und Philologie das zentrale Thema. Von ihr ist der Ausspruch überliefert: „Ich habe geerbt – und Deutschland und die Welt sollen mit mir erben.“[4] Beide Großherzoginnen fanden in ihren regierenden Ehemännern, mit denen sie in wechselseitigem Einverständnis und persönlicher Zuneigung verbunden waren, komplementäre Förderer der Weimar-Kultur und deren Aufweitung zum nationalen Kultus.
Carl Alexander, gelehriger Enkel Carl Augusts und lebenslang beeindruckter Enkelfreund Goethes, etablierte in seiner 50-jährigen Regentschaft bis 1901 – just während des Nationalverstaatlichungsprozesses im emsigen Zeitalter des Historismus – ein mythenfähiges Teil-Narrativ: das „Silberne Zeitalter“ Weimars. Er verwirklichte die zwei bis heute öffentlichkeitswirksamsten nationaldynastischen Memorialkonstruktionen des 19. Jahrhunderts in Thüringen: die Erfindung der Wartburg als Nationaldenkmal unter strikter Ausblendung ihrer urburschenschaftlichen Freiheitssymbolik von 1817 und die Gründung des Goethe-Nationalmuseums als exemplarische Dichtergedenkstätte und Epizentrum des Weimar-Kults. Die eine, schon in den 1830er Jahren beginnend, setzte in Bau und Dekoration auf bildgewaltige Rekonstruktion, das andere, erst durch das Testament des letzten Goethe-Enkels nach 1885 realisierbar, verpflichtete sich zu quellengestützter Authentizität – Gesamtkunstwerk und Zeitmaschine je eigener Art, werden beide mit ihren immersiven Überwältigungsstrategien zu zentralen Bausteinen im Bildungsprogramm für die ganze Kulturnation. Zugleich entwirft sich Carl Alexander eine eigene regional-dynastische Tradition bis ins 12. Jahrhundert: den „Musenhof“, an dem Herrscher und Dichter eine Schicksalsgemeinschaft eingehen, die von unvergleichlichen geistigen Werten und universaler Gültigkeit zeugt. Der legendäre Sängerkrieg auf der Wartburg in der Blütezeit der mittelhochdeutschen Dichtung um 1200[5] wird so leichten Sinnes zum Urbild der Literaturkulmination in Weimar um 1800 arrangiert. Die Wartburg bringt ein mythisches Mittelalter, Weimar den fragilen Epochenbegriff Klassik als symbolisches Kapital in die nationaldynastische Doppelstrategie Carl Alexanders ein, die als Standortfaktor und Geschäftsmodell – auch ohne Dynastie – bis heute erfolgreich ist. Pflichtbewusst werteorientiert prägte der Großherzog aus der Peripherie gesamtdeutsche Geschichtspolitik und profilierte seinen Mikrostaat damit weit über dessen reale Bedeutung hinaus.
So verdanken sich die Ursprungsnarrative der beiden Thüringer Gedächtnisinstitutionen Klassik Stiftung Weimar und Wartburg-Stiftung Eisenach einer glückhaft bruchlosen Erbfolge über vier Generationen der ernestinischen Wettiner und ihrer mäzenatisch gestützten, Symbolwerte akkumulierenden Erinnerungspolitik. Weimar allerdings sichern noch ganz andere Wirkungsmechanismen ab: Es sind zum einen die zentralen Werke, Impulse und Ideen der Klassiker selbst, die für ihre ungebrochene Lebendigkeit bis heute und weltweit sorgen. Zum anderen sind es die vielen Multiplikatoren im Betriebssystem der Kultur: die „Eckermänner“ und Weitersagerinnen in den Fachwissenschaften und der Gesellschaft, die bürgerlichen Schiller-Vereine und Goethe-Gesellschaften, Verleger und Leserinnen, wir alle.
Von heute aus gesehen liegt das Weimar-Narrativ zeitgeschichtlich und thematisch näher als der Wartburg-Mythos.[6] Und es liegt konzeptuell schwerer im Magen. Der mittelalterliche Kern der Burg ist in seiner romanischen Authentizität ebenso eindeutig stark, wie die der Höhenlage geschuldete Signalhaftigkeit des rekonstruierten Gesamtkomplexes. Weimar hingegen wirkt zerklüftet und paradox, ist hypertroph mit seinen pausenlosen Deutungsangeboten und chronischen Aufbruchsversuchen, maßlos in seinem Anspruch auf Totalität und auf Kunst, rigoros bis antihuman in der Konsequenz seiner Ideologien. Seine historischen Bezugspunkte sind disparat, ambivalent und unauslotbar. Die menschlich dimensionierte und weltoffene Topographie der Kleinstadt mit dem Kulturnetzwerk der Klassik Stiftung als Hauptakteur erweist sich als aufnahmefähig für narrative Zuströme und programmatische Höhenflüge. Die inkommensurable Intellektualität des immateriellen Erbekerns der Literatur und Philosophie ist nicht nur fruchtbare und tragfähige Basis, sondern auch einschüchternde Herausforderung für strategische Neuorientierungen. Ideologisch kontaminierte Geschichtskonstruktionen und der quälende Zusammenhang von Aufklärung und Inhumanität, Moderne und Totalitarismus, der sich im 20. Jahrhundert unauslöschlich in die DNA Weimars eingeschrieben hat, ist schwerste Hypothek, doch ebenso Anstoß und Stoff für die Weiterarbeit am Mythos.
III. Wissenstopographie Klassik Stiftung Weimar
In Weimar bündeln sich Kontinuitäten und Diskontinuitäten der deutschen und europäischen Geschichte auf engem Raum. Weimar war ein Experimentierfeld für visionäre Zukunftsideen im Spektrum des Menschenmöglichen: von Reformation und Humanismus über Aufklärung und Klassik bis zur ersten parlamentarischen Republik auf deutschem Boden, gefolgt von drei weiteren Umstürzen diametraler Gesellschaftssysteme im 20. Jahrhundert. Kunst und Macht gingen dabei immer enge Partnerschaften ein; Künstler und Intellektuelle erhielten hier große Einflussmöglichkeiten: vom Bilderunternehmen der Cranachs, die die Lehren Luthers im Heiligen römischen Reich deutscher Nation verbreiteten, über die europaweit einflussreichen Intellektuellen der Goethe-Zeit, die überhaupt erst eine bürgerliche kritische Öffentlichkeit in den deutschsprachigen Ländern schufen, bis zum Staatlichen Bauhaus mit seinen avantgardistischen Gestaltungsideen für eine internationale Industriemoderne. Die historischen Ursprungs- und Handlungsorte sind in Weimar durch Sichtachsen und kurze Wege miteinander verbunden. Durch einen fast ununterbrochenen, epochenübergreifenden Zusammenhang in der Überlieferung und Überschreibung, den Rezeptionen und Revisionen, ist hier ein besonders dichtes, aufschlussreiches Gewebe aus historischen Tiefenbezügen und Querverbindungen entstanden.
Die Klassik Stiftung Weimar trägt die Verantwortung für das materielle und geistige Erbe zweier wesentlicher Epochen der deutschen Kulturgeschichte: der sogenannten Weimarer Klassik um 1800 und der frühen Bauhaus-Moderne – auch dies ein unvollendetes Projekt, das seiner Re-Definition unter sozial-ökologischen Vorzeichen harrt. Damit ist die Stiftung zuständig für Schauplätze und Gesellschaftsentwürfe, die für Selbstverständnis und Aktionsrahmen der Gesellschaft von Heute grundlegend sind. Die ideellen Erbschaften sind nicht nur in Handschriften und Büchern, in Literatur und Philosophie zu finden. Sie werden in vielfältigen Sammlungen und ihren überlieferten Ordnungssystemen, in den Gesamtkunstwerken ihrer räumlichen Verortung und nicht zuletzt in der gestalteten Natur der historischen Parks auch konkret. Anders als die kompakte Profilinstitution Wartburg breitet sich die Klassik Stiftung in Form einer historisch gewachsenen, räumlich-urbanen Netzstruktur aus Kultur- und Forschungsinstitutionen, Baukomplexen und Landschaftsparks über den Stadtraum Weimars bis in Ausläufer des Thüringer Walds aus. Deshalb ist sie am besten als eine Topographie aus bis heute wirksamen Wissensschichten und Wandlungsprozessen zu beschreiben, in der sich physische Orte und ideelle Denksysteme in Zeit und Raum verknüpfen.
Das sind ideale Bedingungen nicht nur für ein aktives Verstehen von geschichtlichen Zusammenhängen, sondern auch für die permanente Produktion von kultureller Bedeutung. Die Topographie-Struktur wirkt sich konstituierend auf Selbstverständnis und Programm der Stiftung aus. Ihr folgt der flanierende Modus des Eintauchens in das Ganze oder auch nur Bruchstücken davon, die persönliche Erfahrung, selbstbestimmtes Lernen und individuelles Verstehen möglich macht – das, was Goethe einmal Herzensbildung genannt hat. Ebenso wesentlich sind die sensuellen Qualitäten des ganzheitlichen Erlebnisraums, die das Entspannen und Genießen erleichtern, was Entlastung von Absolutheitsansprüchen jeglicher Art und Trost bedeuten kann. Die Topographie erfordert das Parcoursprinzip der Programmgestaltung. Das bestimmt die Themenjahre mit ihrer sich gegenseitig stärkenden Vielfalt von kleineren und mittleren Ausstellungen und Angeboten, begünstigt die offenen Dialog- und Diskursformate für ein extrem breites Publikumsspektrum, von der Fachöffentlichkeit bis zum Familienabend, und prägt die Workshop- und Outreach-Programme für Weimar und den ländlichen Raum. Hierin begründet sich auch der konzeptionelle Verzicht auf Blockbusterformate und das – kulturgeschichtlich gut legitimierte – Bekenntnis zu einerseits konzentrierten, eher konzeptuellen und andererseits geselligkeitsfördernden Formaten, die den Orts- und Sammlungsbezug voll ausspielen.
Das ebenso wichtige Netzwerkverständnis in der komplexen Organisationsstruktur hingegen entfaltet den notwendigen sanften Zwang zur besseren Abstimmung, Kooperation und zu gemeinsamen Zielen zwischen den profilierten Leitinstitutionen unter dem Schirm der Stiftung. Die Einrichtung kann sich dabei nicht nur auf ihr 33-jähriges Bestehen nach dem Gesellschaftsumbruch von 1990 berufen, sondern auch auf das knappe halbe Jahrhundert einer engverwandten, ähnlich strukturierten und ambitionierten Vorgängerinstitution in der DDR – der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar. Allein die Direktion Museen umfasst 21 Schlösser und Schauräume, Dichter- und Künstlerhäuser sowie die Museen für moderne Kunst und Design – allen voran das 1885 gegründete Goethe-Nationalmuseum und das 2019 eröffnete Bauhaus-Museum. Bei der Herzogin Anna Amalia Bibliothek und dem Goethe- und Schiller-Archivs handelt es sich um außeruniversitäre Forschungseinrichtungen von nationalem und internationalem Rang, während die sechs historischen Parks in und rund um Weimar die besucherstärksten und pflegeintensivsten Liegenschaften der Stiftung sind, die eben auch als Bauherrin für die Denkmalpflege von 74 Bauwerken und 150 Hektar Gartenanlagen verantwortlich ist. In Museen, Archiv und Bibliothek werden Sammlungskomplexe mit rund 270.000 Kunstobjekten und Ausstattungsstücken, 1,2 Millionen Büchern und E-Ressourcen sowie fünf Millionen Blatt Handschriften bewahrt, wissenschaftlich erschlossen, digitalisiert und für Forschung, Bildung und Genuss bereitgestellt. National und international singuläre Schwerpunkte sind handschriftliche Dichter- und Musikernachlässe, die Inkunabel- und Stammbuchsammlung sowie eine zirka 230.000 Blatt große Graphische Sammlung, die einen Überblick über die europäische Entwicklung vom 15. bis zum 21. Jahrhundert bietet.
Dieses Netz mit vielen Knoten braucht die Einbettung in stabile Arbeitsbeziehungen, die Interaktion seiner Institutionen und Akteure untereinander und mit ihrer Umwelt. Zweifellos ist diese Komplexität anstrengend, zugleich aber kostbarer Rohstoff und notwendige Triebkraft für Information, Intelligenz und Innovation. Damit muss die Klassik Stiftung Weimar als eine der großen Gedächtnisinstitutionen der Bundesrepublik in Trägerschaft von Bundesregierung, Freistaat Thüringen und Stadt Weimar gelten. Zwölf ihrer Einrichtungen und Liegenschaften sowie der schriftliche Nachlass Goethes sind UNESCO-Welterbe. Das verpflichtet zu globalem Denken. 1999 wurde daher aus der Stiftung heraus Weimar als Kulturhauptstadt Europas vorgeschlagen und dann auch in kritischer Reflexion hegemonialer europäischer Denk- und Deutungsmuster mit überzeugendem Erfolg konzipiert.
Zwanzig Jahre später ist die Welt eine andere: Globalisierung, Digitalisierung, die Transformation gesellschaftlicher Strukturen und Systeme, ökonomisch und psychisch belastende Auswirkungen des irreversiblen Klimawandels, das Ringen um Demokratie als zukunftsfähiges Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell, eine weltweite Pandemie und Krieg in Europa… Eine bis dato unvorstellbare Eskalation der Krisen und Aufgaben stellt vieles in Frage, was die westliche Welt seit der frühen Neuzeit und insbesondere dem Beginn der auf fossiler Verbrennung beruhenden Kapitalakkumulation des Industriezeitalters ausmacht, dessen erste Anzeichen Goethe schon ahnend beschrieb. Noch bis vor wenigen Jahren galt die Leiterzählung des Fortschritts, in den die religiöse Heilsgewissheit als kultureller Code eingeschrieben war. Das Ende dieser Illusion muss Basis sowohl der nüchternen Analyse, als auch möglicher neuer Zukunftsentwürfe sein.
Auf den Strukturwandel in der Gesellschaft will auch die Klassik Stiftung Weimar Antworten finden. In Vorbereitung darauf wurden 2019 ein Perspektivwechsel mit drei Aspekten und ein Strategieprozess eingeleitet. Es geht ans Eingemachte, um Selbstverständnis und Philosophie, an das, was die Institution im Innersten zusammenhält. Es gilt eine prinzipielle Neuorientierung nach außen, auf Gegenwart und die Zivilgesellschaft als Adressat anzustoßen, als Voraussetzung dafür, offener, verständlicher und gesellschaftlich wirksamer zu werden. Dabei ist es notwendig, die vielgliedrige, aufgrund von historisch fundierten Eigenlogiken und Spezialpraktiken auseinanderstrebende Organisation mit mehr als 400 Kolleginnen und Kollegen für eine gemeinsam getragene Intention zu begeistern und zu verpflichten: die Wissenstopographie Weimar in ihrer einzigartigen Dichte, sinnlichen Qualität und erinnerungskulturellen Ambiguität als Ressource für Existenzfragen im 21. Jahrhundert zu aktivieren. Die vielfältigen Erbschaften zu einer Produktivkraft für das Heute und Morgen zu machen, ohne den Gefahren charakterlos verkürzender Aktualisierungen zu erliegen.
Damit strebt die Weimarer Stiftung nicht weniger an, als mit ihrem unverwechselbaren Gesamtzusammenhang aus historischen Sammlungen und Orten, Ordnungen und Ideen eine ihren Potentialen angemessene Pionierrolle in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen zu übernehmen. Besonders die spezifischen Potentiale der Weimarer Spätaufklärung und des frühen Bauhauses sind für notwendige Transformationsprozesse unserer Gegenwart aufzuschließen, zu debattieren und zu nutzen. Als Kulturinstitution, die Orientierungswissen ermöglicht, rückt die Klassik Stiftung drei Ebenen in den Fokus ihrer geistesgegenwärtigen, geschichtshermeneutischen Verantwortung: die historischen Orte in ihrer Materialität und Diversität, die Sammlungen und Bestände in ihrer Überlieferungsdichte sowie die komplexen Institutionsgeschichten und ihre paradoxen erinnerungskulturellen Implikationen. Neben Substanzrettung und dem Bewahren von Zeugnissen, Denkmalen und Daten treten das Weiterentwickeln von Infrastrukturen und ihr nachhaltiges Management in integrierten Betriebs- und Nutzungskonzepten in den Vordergrund. Als Ort der sammlungsbezogenen Forschung schärft die Stiftung in nationalen und internationalen Netzwerken ihr Profil durch Konzentration auf Kernexpertisen und wissenschaftliche Exzellenz, die explizit den Kontakt zur Gesellschaft sucht. In Bildung und Vermittlung setzt sie auf den Austausch mit Akteuren der Zivilgesellschaft. Als demokratische Institution will die Stiftung Impulsgeberin und Brückenbauerin zwischen Wissenschaft und diversen Öffentlichkeiten sein, Übersetzerin geschichtlicher Tiefendimensionen ins gegenwärtige Leben.
Das heißt, der Klassik Stiftung Weimar komplexere Narrative anzumessen und diese in Versuchsanordnungen so lange zu testen und zu verändern, bis sich Einsichten und Aussichten auf Weiterführendes, Öffnungen und Lösungen erkennen lassen. Diesen Plan intelligent, nachhaltig und zukunftsfähig Wirklichkeit werden zu lassen, setzt voraus, dass er sich unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts als plausibel und praxistauglich erweist.
IV. Labor der Humanität
„Weimar ist ein
Kommunikationsort
für alle Fragen.“
Stéphane Hessel, Was wird Buchenwald einmal bringen[7]
Auf unserer Agenda steht also ein Weiterarbeiten am Mythos. Dabei gilt es zu ergründen, ob sich beim Versuch seiner äußersten Verformung Möglichkeiten alternativer Erzählungen und Praktiken herauskristallisieren, die wir in der gegenwärtigen Welt gut gebrauchen könnten. Vor der Folie des unheilbaren Konnexes von Hochkultur und Kulturbruch, Klassik und Konzentrationslager, gehen wir darum das Wagnis ein, die Klassik Stiftung Weimar als einen Kommunikationsort für alle Fragen, als ein spezifisches Experimentierfeld für die unlösbaren Widersprüche der menschlichen Existenz und die unerledigten Projekte der Aufklärung und Moderne anzubieten – was vielleicht als ein reflexives, kritisches, ja kontroverses „Labor der Humanität“ bezeichnet werden könnte. Dafür müssen wir uns allerdings auf einen längeren empirischen Weg von Versuch und Irrtum einlassen, auf ein Aufbrechen, Scheitern, Weitermachen, Besserscheitern – frei etwa nach Charles Olsons „Ich versuche rauszufinden, wie man die Materialien, an denen ich interessiert bin, werfen muss, damit sie einschlagen.“[8] Andere Wege sind denkbar.
Im Kern handelt es sich um eine Neucodierung des kulturellen Potentials – im Bewusstsein, dass kulturelle Aneignung immer kritische Transformation bedeutet. Zur Diskussion stehen Kulturbegriff und Wertekanon in unserem Land. Wie soll eine gute Gesellschaft heute, wie muss ein lebenswertes Leben morgen aussehen? Die alte Bauhaus-Frage neu gestellt: "[…] welche Formen des Gemeinwesens wollen wir erstreben"?[9] Es gilt, einen Stilwechsel der öffentlichen Stimmung zum Konstruktiven und Positiven hin zu gestalten. Wer aber kulturelle Zukunftskonzepts entwickeln will, muss starke Geschichten erzählen können. Immerhin – zwei bewegende Visionen sind von Weimar aus schon einmal in die Welt projiziert worden: Das unbedingte Erkenntnisverlangen der Goethe-Figur Faust „Was die Welt im Innersten zusammenhält“, das wie wir wissen auch in die Katastrophe führen kann, und die „Kathedrale der Zukunft“ – von Lyonel Feiniger in expressiver Emphase für das Bauhaus-Manifest entworfen.
Ist es zu vermessen, unsere intellektuellen und kulturellen Ressourcen heute kühn auf Entwürfe für die eigene Zeitenwende konzentrieren zu wollen? Auf unsere“ Sattelzeit“,[10] in der neben den alten ungelösten Menschheitsfragen völlig neue Existenzprobleme zu bewältigen sind – von der sozialen Frage über den Demokratieschwund bis zum Klimawandel? Kluges gesellschaftspolitisches Handeln braucht Kontexte, Deutung, Zukunftsbilder, also die historische Tiefendimension und kulturelle Erwartungshorizonte.
An dieser Stelle drei aktuelle kleinformatige Beispiele und ein sehr grundsätzliches Projekt aus der aktuellen Arbeit der Klassik Stiftung Weimar:
1. Im Co-Labor, einer ephemeren hölzernen Teststruktur, die vor dem Residenzschloss Weimar improvisiert wirkt und keineswegs allen gefällt, feierten wir Anfang 2023 die Premiere des Kommunikationsprojekts „Schloss erzählen“. Das größte Baudenkmal der Stiftung ist seit 2018 eine besonders schwierige Baustelle – hier sollen sich einmal Bildung, Forschung, Museum und Stiftungsleitung mit den Direktionen Verwaltung und Schlösser, Gärten Bauten in einem Multifunktionskomplex zusammenfinden. Das offene Schloss wird – neben dem Goethe-Nationalmuseum und dem Bauhaus-Museum – der dritte Hauptknoten im Kulturnetzwerk der Klassik Stiftung, dem neuen Souverän Zivilgesellschaft gewidmet. Voraussichtlich erst 2026 werden wir im Ostflügel zuerst den neuen Empfangsbereich eröffnen, etwas später in den historischen Schauräumen die „Erfindung Weimars“ zeigen. Während wir jetzt im Innern Mauern freilegen und Oberflächen restaurieren, beim Schwammbeseitigen um jeden Holzbalken ringen, aber auch Stahlträger einziehen, um den klassizistischen Festsaal zu festigen, erzählen wir Schlossgeschichten – in ganz verschiedenen Medien, der Fotografie, des Hörstücks, in Form von Workshops und Literatur. So reißt über die Bauzeit mindestens der Gesprächsfaden nicht ab.
2. Im Thüringer Wahljahr 2024 senken wir Sonden in die ambivalenten Tiefenschichten des 20. Jahrhunderts, das uns noch unmittelbar angeht. Eine historische Wahl führte am 10. Februar 1924 mit dem Sieg des Thüringer Ordnungsbunds zur ersten von rechtsradikalen Kräften – der Vereinigten Völkischen Liste – geduldeten Landesregierung. Das war der Anfang vom Ende der Weimarer Republik, die sich 1919 nicht ohne Grund in Weimar konstituiert hatte und nach dem Ersten Weltkrieg unter Anrufung des Goethe-Geistes ein besseres Deutschland gestalten wollte. Ein direktes Resultat dieser Wahl war der Auszug des Bauhauses aus Weimar, dem die konservativ-reaktionäre Regierungsmehrheit mehr als die Hälfte der staatliche Finanzierung strich.[11] Es wechselte auf Einladung des sozialdemokratischen Oberbürgermeisters 1925 nach Dessau, wo es seine Blütezeit mit großen Auswirkungen für das gesamte Jahrhundert gestalten konnte. Wir nehmen aus diesem für Weimar bitteren Anlass erstmals ein heikles Thema im Format einer mehrteiligen Ausstellung in drei Museen unter die Lupe: Bauhaus und Nationalsozialismus. Dieser Zusammenhang galt bis weit in die 1990er Jahre als unvereinbarer Gegensatz. Die politisch begründete Vertreibung aus Weimar war das erste Argument für den bis heute lebendigen Mythos der „guten“ antifaschistischen Institution. Eine differenzierte Aufarbeitung zeigt jedoch, dass sich die moderne Design- und Architekturschule nicht einfach dem verbrecherischen System entgegensetzen lässt. Eine Mehrheit der Bauhäusler blieb nach 1933 in Deutschlands Diktatur. Meister und Studierende finden sich nicht nur unter den Opfern, sondern waren auch Profiteure des NS-Regimes. An den Weimarer Gründungs- und Findungsjahren lassen sich mit größter Klarheit die brandgefährlichen Rückzugsgefechte eines kulturell enteigneten Bildungsbürgertums und das Widerspruchsfeld der künstlerisch produktiven und politisch destruktiven Dynamiken der Moderne erkennen.[12] Und schließlich greifen wir die alternativen Versuche eines Neustarts nach dem Zivilisationsbruch auf: die deutschen Staatsgründungen 1949 im Zeichen des kalten Kriegs. Diesseits und jenseits der Stacheldrahtnaht durch Deutschland beriefen sich die kompromittierten Eliten auf den Klassiker als wenn nichts gewesen wäre. Nur Karl Jaspers und Richard Alweyn erhoben hörbar Einwände. In Frankfurt/Main und Weimar wurde der 200. Geburtstag Goethes mit analogen Auftritten des Exilanten Thomas Mann gefeiert. In der DDR wusste die Einheitspartei den territorialen Standortvorteil mit der Gründung den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten zu nutzen. 75 Jahre nach der Spaltung Deutschlands richtet sich unser Blick auf Kontinuitäten und Brüche deutscher Kulturpolitik im Umgang mit dem Weimarer Erbe.
3. Ein Signal setzt die Klassik Stiftung Weimar aber auch in einer neuen Kooperationskultur mit lebenden Autorinnen und Dichtern. Am Vorabend des ersten Jahrestags der russischen Invasion am 24. Februar 2022 veröffentlichten wir in unserem Blog ein besonders starkes Stück Literatur der ukrainischen Schriftstellerin Kateryna Mishchenko, mit der uns seit Frühjahr 2021 eine intensive Arbeitsbeziehung verbindet. „Über uns erstreckt sich toxischer Himmel und das Gift dringt durch uns tief in die Erde ein.“[13] Mishchenkos kurzer, dunkler Text zum Krieg in der Ukraine erinnert an Michail Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“, eine phantastisch-philosophische Parabel über Macht und Ohnmacht der Kunst, über Gut und Böse und den Sieg der Liebe von weltliterarischem Rang, mit dem der Autor den vernichtenden Terror Stalins beschrieb und dessen realgeschichtlichen Untergang antizipierte.
Mit zeitgenössischen Künstlern denken wir auch über neue Formen der Erinnerung im Goethe-Nationalmuseum nach. Die denkmalgerechte Generalsanierung und museale Neukonzeption sind das sicher anspruchsvollste Infrastrukturprojekt, das die Stiftung in den nächsten zehn Jahren nicht nur beschäftigen, sondern auch verändern wird. Mit „La Casa“ der Multimediakünstlerin Danica Dakic – einer filmischen Ruinen-Erzählung über Erinnern und Vergessen, Erben und Zerstören in Weimar und Rom – beginnen wir den auratischen Schauplatz aufzubrechen für eine andere Art von Erinnerungskultur. Unsere Vision ist, einen ambivalenten Gedächtnisort mit dem Werkstattcharakter eines „Labors der Humanität“ zu verbinden. Denn das Dichterhaus am Frauenplan mitsamt seinen historischen Ausstattungsschichten, den naturwissenschaftlichen und künstlerischen Sammlungen, der Gelehrtenbibliothek und den hier hinterlassenen literarischen und wissenschaftlichen Handschriften, Tagebüchern und Briefen war nicht nur ein halbes Jahrhundert lang Lebensmittelpunkt, Arbeitsort, Denkwerkzeug und Knotenpunkt des europaweiten Netzwerks eines außergewöhnlichen „être collectif“.[14] Auch alle nachgeborenen Generationen haben diesen Ort als nationales Kultursymbol der Sonderklasse mit „ihrem“ Bild von Goethe überformt und zunehmend fiktionalisiert. So entstand ein einzigartig widersprüchlicher Überlagerungskomplex. Es gibt – so viel wir wissen – weltweit keinen vergleichbaren Ort, an dem sich materielles und immaterielles Kulturerbe und Gegenwart, Kunst und Politik, Provinz und Weltgeschichte so unauflöslich verknüpfen und bis ins 21. Jahrhundert immer noch überzeugende Wirkungsmacht entfalten. Heute ist die Wahrnehmung Goethes als deutscher Nationaldichter selbst historisch geworden. Dennoch kommen Gäste aus aller Welt mit positiven Erwartungen an ein essentielles Kulturerbe der Deutschen hierher.
Die Neukonzeption des Nationalmuseums ist zunächst einmal eine archäologische Suchbewegung. „Wo ist Goethe?“. Es gilt, Goethe als einen europäischen Autor, Künstler, Sammler, Wissenschaftler und Politiker freizulegen. Wir wollen sein Haus als einen europäischen Ort verständlich machen und unser Publikum zu Aha-Erlebnissen verführen: zum Beispiel, dass sich dieser Ort unablässig physisch verändert hat, am stärksten durch Goethe selbst und durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs, oder eben dass es sich um einen Ort unentwegter, teils diametraler Um- und Neudeutungen handelt, die auch ideologische Funktionalisierungen und geschichtspolitische Fälschungen umfassen. Das historische Ensemble – bestehend aus dem Wohnhaus mit Hausgarten und Gartenpavillons sowie zwei Museugebäuden des frühen 20. Jahrhunderts – soll als Denkwerkstatt und Labor eines außergewöhnlichen „Kollektivwesens“ mit allen seinen Lebensbezügen und Produktionsbedingungen erfahrbar werden. Denn hier hat Goethe – immer in Gesellschaft von Lebensgefährtinnen und Mitarbeitern, Freunden und Inspiratorinnen, Förderern und Kollegen – das Denken und Wissen, die Seinsformen und Praktiken seiner Umbruchszeit verarbeitet und mit originärer Gestaltungskraft zu einer komplexen, immer wieder neu ausdeutbaren Weltsicht geformt. Doch statt eine weihevolle nationale Gedenkstätte soll das Dichterhaus zu einem lebendigen Raum werden – eine europäische Zukunftswerkstatt mit vielen Beteiligten, vor allem jungen Menschen unterschiedlichster Prägungen, die hier Motivation und Inspiration für ihre eigenen Wege ins Offene gewinnen. Kurz: Mit dem physischen Denkmal wird zugleich seine gesellschaftliche Wirkung im 21. Jahrhundert zukunftsfest gemacht.
V. Tieferhängen. Blick ins Weite
Goethe überfiel – aktenlesend – im romanischen Palas der verfallenden Wartburg 1777 noch eine „unbeschreibliche Unbehagenheit“.[15] Lieber schaute er von hier aus in die Thüringer Gipfel- und Wipfellandschaft. Allein der entlastende Blick nach draußen ließ ihn an die Freundin Charlotte von Stein jubilieren: „wie die nackten Felsspizzen im Monde röthen und die lieblichen Auen und Thäler ferne hinunter, und das weite Thüringen hinterwärts im Dämmer sich dem Himmel mischt.“[16]
Wäre es nicht sinnvoll, regelmäßig nach Abstand vom unbehaglich Einengenden einer überbordenden Historie und einen Ausweg ins Weite zu suchen? Das Weimarer Naturgesetz der Sinnüberschüsse kreativ zu brechen? Und zur Übung eine ausgenüchterte, scharfsinnige, lebensdienliche Weiterarbeit am Mythos in die umgekehrte Richtung aufzunehmen? Ausstieg aus den Zyklen der Erben und Epigonen? Probeweise als Propädeutikum: Auf Widerrede, Weiterdenken, Transformieren setzen, statt auf Rezeption, Reproduktion, Rekonstruktion? Anstelle der ewigen Historisierung, Musealisierung, Philologisierung – ein anfechtbares Einklinken in die Diskurse unserer Tage? Jedenfalls geht es darum, eine Erinnerungskultur zu etablieren, die sich nicht in Fiktionalisierung, Identifikation und Emotionalisierung erschöpft, sondern auf die Wahrnehmung von Differenz und die Fähigkeit zu Differenzierung und Urteilskraft zielt. Auf ein Geschichtsbewusstsein, das reflektierend, nicht restaurativ ist und eher von einer möglichen Zukunft als von imaginären Vergangenheiten träumt: Erinnerung nach vorn.
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