Weimar im 21. Jahrhundert

Weiterarbeiten
am Mythos

von
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Ulrike Lorenz schreibt über die erinnerungspolitischen Wechselwirkungen zwischen Weimar und Wartburg als herausragende Symbolorte des deutschen Kulturerbes. Am Beispiel der programmatischen Neuorientierung der Klassik Stiftung Weimar gibt sie Impulse zur geschichtskritischen Vermittlung ambivalenter Mythen in der gegenwärtigen Zeit. Der Blogbeitrag der Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar ist für die Wartburg-Stiftung und ihrer 2024 geplanten Publikation „Wartburg.Sichten“ entstanden.

Grenzbegriff der Arbeit am Mythos wäre,
diesen ans Ende zu bringen, ­
die äußerste Verformung zu wagen, ­

die die genuine Figur gerade noch oder
fast nicht mehr
erkennen lässt.
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos [1]

I. Deutsche Mythen und kein Ende

Wartburg und Weimar sind Erfindungen des 19. Jahrhunderts. Historisches Wahr­zeichen und geistige Topographie – beide wurden aus verschieden guten Gründen zu Symbol­orten deutscher Geschichte und Kultur kanonisiert und in­sze­nie­ren sich bis heute erfolgreich. Weniger als national­kulturelle Ikonen, denn als Welt­erbestätten und touristische Attraktionen ziehen sie ein Millionen­publikum an. Dieser seit zwei Jahrhunderten und über alle gesellschaft­lichen Umbrüche hinweg anwachsende Effekt gründet in nichts als – Geschichten. Erzählungen über eine ferne, le­gen­den­haft-mittelalterliche Vergangenheit und eine mit dem Todesjahr der kon­sti­tu­ie­ren­den Weimar-Figur Goethe 1832 kaum vergangene Gegenwart. Von den noch jungen Geisteswissenschaften Historiographie und Germanistik entworfen und für eine spezifische zeitgeschichtliche Konstellation zugerichtet, verfestigten sie sich zügig zum Zentralnarrativ der deutschen Kulturnation.

Dieses eingängig verkürzte, sich auf beliebte Schrift­steller und historische Quellen stützende Konzept wurde über das tonangebende Bildungsbürgertum hinaus in den Splitterstaaten deutscher Zunge aufge­griffen – als symbolische Kompensation für die nach den napoleonischen Befreiungs­kriegen verhinderte nationale Einheit und für eine in der bürgerlichen Revolution 1848 gescheiterte Demokratie. Es war für die Nation ohne Staat, die sich nicht allein über eine Sprache, sondern auch durch Geschichte, Kunst und Bildung definieren sollte, Balsam auf die Seele. Als säkularisierte Mythologie sicherte es den politischen Kräften der Moderne kulturelle Legitimität.[2] Die verspätete Nation der zerrissenen Deutschen in Europas Mitte erfand sich damit nicht nur eine mythische Vergangen­heit, sondern auch die exklusive Tradition kultureller Höchst­leistungen, allen voran in Literatur und Philosophie, die schließlich auch in geistige Überlegenheitsphantasmen und einer staatspolitischen Verheißung mündete. Hier nun liegt der Geburts­fehler der „Kulturnation“, der den Umgang mit ihr bis heute vergiftet. Die gewagte Ideen­konstruktion von Historikern und Germanisten setzt Normen und löst Werte­diskurse aus – und kann daher leicht zu Intoleranz verführen, weil die Deklassierung anderer Kulturen in Kauf genommen oder bewusst betrieben wird. Genau dies erwies sich als elastisches Sprungbrett nicht nur für die nationalen Ambitionen im demokratisch-liberalen Spektrum, sondern – nach Vollstreckung der Staatseinheit der Deutschen – auch zu toxischen Steigerungskaskaden nationalistischer Ideologien bis hin zum kultur- und menschenvernichtenden Finale des National­sozialismus.

Die immanente Spannweite des theoretischen Konstrukts ließ es gesellschaftlich wirksam werden und Fakten schaffen. Die imaginierte weltbeste Kultur­nation – und damit auch die Gedächtnisorte Wartburg und Weimar – erhielten eine klare Zukunfts­perspektive, die klassen­übergreifend Sog entfaltete: den deutschen Nationalstaat als reale Weltmacht. 1871 wurde dieser in Gestalt einer konstitutionellen Kaiser­monarchie tatsächlich Realität, allerdings nur in der kleindeutschen Version unter preußischer Oberleitung. In Konkurrenz zu alteingesessenen Weltmächten begann das Deutsche Reich erst jetzt den imperialistischen Wettlauf um Weltmärkte, Militärvormacht, Kolonien und kulturelle Hegemonie. Die zeit­historische Verspätung erzeugte Kompensations­überdruck, dem nur durch weiter aufgerüstete Erzählungen zu Herkunft und Zukunft abzuhelfen war. Daher luden sich auch die narrativen Kerne der Erfolgsstory „Kulturnation“ nationalistisch und rassistisch auf, teils bis zur Unkenntlichkeit. So blieben die strapazier­fähigen Erzählungen Wartburg und Weimar in weiteren Ausformungen mit den Radikalumstürzen und -aufspaltungen des 20. Jahrhunderts der Extreme bis über die Wiedervereinigung der Deutschen hinaus eng verflochten. Und sie bieten am Beginn des neuen Jahrtausends – in der mühsamen Aufarbeitung des Zivilisations­bruchs der National­sozialisten intellektuell schärfer und selbstreflexiv geworden – noch immer sinnstiftende, vielleicht gar wegweisende Anschlussstellen für eine auf Kultur und Bildung, kritisches Geschichtsbewusstsein und liberale Demokratie gegründete Gestaltung einer krisengeschüttelten Gegenwart und gefährdeten Zukunft im Anthropozän.

Kurz: Ideale Höhenburg und geheime Kultur­hauptstadt der Deutschen sind Memorial­konstruktionen des 19. Jahrhunderts. Einst Antwort auf politische Mangellagen – fehlende nationale Einheit und verweigerte demokratische Freiheiten –, vermögen sie erstaunlicherweise auch in unserer fundamental veränderten Jetztzeit essentielle Sehnsüchte vieler Menschen auf sich zu vereinen. Das ist die Nagelprobe für Mythen von robuster Lebendigkeit. Im Kern gestützt auf materielle Kronzeugen, seien es massive Stadt-, Burg- und Dichterdenkmäler oder die disparaten Sammlungen in Archiven, Bibliotheken und Museen, wuchern und ranken die Narrative fort. Seit 200 Jahren entzünden sich an Wartburg und Weimar nicht nur Imagination und Verantwortungs­bewusstsein nachwachsender Generationen, sondern auch deren notwendige Tatkraft, diese widersprüchliche Erbschaften, in denen sich Materielles und Immaterielles, Überrest und Tradition unlösbar amalgamieren, unter Aufwendung erheblicher finanzieller und mentaler Ressourcen zu bewahren, zu erschließen, zu vermitteln und lebendig zu halten, was heißt: anschlussfähig für relevante Umwelten, antwortfähig auf junge Menschen mit ungeahnten Bedürfnissen und Begabungen, auf andere gesellschaftliche Herausforderungen und erweiterte wissen­schaftliche Theorien. Damit lagern sich naturgemäß immer wieder neue programmatische Sinn­überschüsse an. Doch – eingedenk der ausgrenzend-abwertenden Ideologiegefahr normativer Narrative – gilt es diese jetzt für eine Welt­gesellschaft in fragilen planetarischen und politischen Verhältnissen gewitzt gegen den Strich zu bürsten.

Es sind zwei Kultur­institutionen, die dafür heute Verantwortung tragen: die Wartburg-Stiftung Eisenach und die Klassik Stiftung Weimar. Als Treuhänder der gesellschaftlichen Auftrag- und Geldgeber sichern sie nicht nur den Bestand an materiellen Zeugnissen vom Mittelalter bis heute, darunter palimpsest­artige Riesenbaukomplexe und hunderte Hektar lebendiger Park­landschaften oder die originalen Handschriften eines vergilbenden Kanons klassischer deutscher Literatur. Sie sind auch dazu aufgerufen, ihre inhärente Geschichts­besessenheit bewusst im Heute zu verankern und auf ihren Aufklärungsauftrag auszurichten, um die komplizierte, doch instruktive Geschichte der national­politischen Memorial­konstruktion des 19. und 20. Jahrhunderts – ein mythenstrukturierendes Narrativ sui generis – durch kritische Dekonstruktion kenntlich und nutzbar zu machen.

Vor allem auf diesem Hochspannungsfeld ringen wir um ein zeitgemäßes Selbstverständnis, breiten­wirksame Legitimation und tragfähige Zukunfts­konzepte. Über Hans Blumenberg hinaus ist nämlich zu sagen, dass die Überfülle und Last der Rezeption ihre verstörende Gegenwärtigkeit nicht nur aus der Unmöglichkeit bezieht, den Auftrag zu erfüllen oder abzulehnen.[3] Wir sind auch prinzipiell nicht in der Lage, den allerdings aus eigener Kraft bis in die äußerste Verformung fortzuschreibenden Mythos zu Ende zu bringen, weil es weder in Kunst, Literatur und Philosophie, noch in Geschichts­schreibung, Erinnerungskultur und Denkmalpflege ein letztes Wort je geben kann, jedenfalls solange die Spezies Mensch atmet und denkt.

II. Symbolpolitik Erinnerungskultur

Wartburg und Weimar. Diese Symbolorte gründen – indirekt der eine, unmittelbar der andere – auf kontingenten wie effekt­vollen Personal­entscheidungen und Erziehungs­maßnahmen einer aufgeklärten Souveränin in Weimar im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts: Anna Amalia, Herzoginmutter und Vormundschafts­regentin ihres Sohnes und Goethe-Freundes Carl August. Vor allem aber verdanken sie sich der kalkulierten und leidenschaftlichen Memorialpolitik des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach im 19. Jahrhundert. Und wiederum sind es zwei sorgfältig ausgebildete, kulturell mehrsprachige Landes­fürstinnen, die richtungsweisende Erinnerungs­maßnahmen initiierten und aus ihren europäisch dimensionierten Erbschaften finanzierten: Maria Pawlowna Romanowa, russisch-deutsche Zarentochter, und Sophie von Oranien-Nassau, Prinzessin der Niederlande. Maria Pawlowna legte mit der Enfilade der Dichter­zimmer im Weimarer Residenz­schloss den Grundstein für die spezifisch ideen­geschichtliche Weimarer Erinnerungs­kultur. Die Folge theatralischer Bilder­höhlen mit Literatur­illustrationen von Malern zweiter Klasse wurde die erste öffentliche Weihestätte für das klassische Viergestirn Wieland-Goethe-Herder-Schiller. Die Nachfolgerin Sophie konstituierte, nachdem ihr der schriftliche Nachlass Goethes vererbt worden war, mit einer einsichtigen Erwerbungs­politik das Goethe- und Schiller-Archiv als Prototyp des Literaturarchivs für eine ganze Epoche. Und sie lieferte mit der ersten wissenschaftlich-kritischen Gesamtedition der Werke des zum National­dichter teutonisierten Goethe auch den sich formierenden Disziplinen Germanistik und Philologie das zentrale Thema. Von ihr ist der Ausspruch überliefert: „Ich habe geerbt – und Deutschland und die Welt sollen mit mir erben.“[4] Beide Großherzoginnen fanden in ihren regierenden Ehemännern, mit denen sie in wechsel­seitigem Einverständnis und persönlicher Zuneigung verbunden waren, komplementäre Förderer der Weimar-Kultur und deren Aufweitung zum nationalen Kultus.

Carl Alexander, gelehriger Enkel Carl Augusts und lebenslang beeindruckter Enkelfreund Goethes, etablierte in seiner 50-jährigen Regentschaft bis 1901 – just während des National­verstaatlichungs­prozesses im emsigen Zeitalter des Historismus – ein mythenfähiges Teil-Narrativ: das „Silberne Zeitalter“ Weimars. Er verwirklichte die zwei bis heute öffentlichkeits­wirksamsten national­dynastischen Memorial­konstruktionen des 19. Jahrhunderts in Thüringen: die Erfindung der Wartburg als Nationaldenkmal unter strikter Ausblendung ihrer urburschen­schaftlichen Freiheits­symbolik von 1817 und die Gründung des Goethe-Nationalmuseums als exemplarische Dichter­gedenkstätte und Epizentrum des Weimar-Kults. Die eine, schon in den 1830er Jahren beginnend, setzte in Bau und Dekoration auf bildgewaltige Rekonstruktion, das andere, erst durch das Testament des letzten Goethe-Enkels nach 1885 realisierbar, verpflichtete sich zu quellen­gestützter Authentizität – Gesamt­kunstwerk und Zeit­maschine je eigener Art, werden beide mit ihren immersiven Überwältigungs­strategien zu zentralen Bausteinen im Bildungs­programm für die ganze Kulturnation. Zugleich entwirft sich Carl Alexander eine eigene regional-dynastische Tradition bis ins 12. Jahrhundert: den „Musenhof“, an dem Herrscher und Dichter eine Schicksals­gemeinschaft eingehen, die von unvergleichlichen geistigen Werten und universaler Gültigkeit zeugt. Der legendäre Sänger­krieg auf der Wartburg in der Blütezeit der mittel­hochdeutschen Dichtung um 1200[5] wird so leichten Sinnes zum Urbild der Literatur­kulmination in Weimar um 1800 arrangiert. Die Wartburg bringt ein mythisches Mittelalter, Weimar den fragilen Epochen­begriff Klassik als symbolisches Kapital in die national­dynastische Doppel­strategie Carl Alexanders ein, die als Standort­faktor und Geschäftsmodell – auch ohne Dynastie – bis heute erfolgreich ist. Pflichtbewusst werteorientiert prägte der Großherzog aus der Peripherie gesamtdeutsche Geschichts­politik und profilierte seinen Mikrostaat damit weit über dessen reale Bedeutung hinaus.

So verdanken sich die Ursprungs­narrative der beiden Thüringer Gedächtnis­institutionen Klassik Stiftung Weimar und Wartburg-Stiftung Eisenach einer glückhaft bruchlosen Erbfolge über vier Generationen der ernestinischen Wettiner und ihrer mäzenatisch gestützten, Symbolwerte akkumulierenden Erinnerungs­politik. Weimar allerdings sichern noch ganz andere Wirkungs­mechanismen ab: Es sind zum einen die zentralen Werke, Impulse und Ideen der Klassiker selbst, die für ihre ungebrochene Lebendigkeit bis heute und weltweit sorgen. Zum anderen sind es die vielen Multiplikatoren im Betriebssystem der Kultur: die „Eckermänner“ und Weitersagerinnen in den Fach­wissenschaften und der Gesellschaft, die bürgerlichen Schiller-Vereine und Goethe-Gesellschaften, Verleger und Leserinnen, wir alle.

Von heute aus gesehen liegt das Weimar-Narrativ zeit­geschichtlich und thematisch näher als der Wartburg-Mythos.[6] Und es liegt konzeptuell schwerer im Magen. Der mittel­alterliche Kern der Burg ist in seiner romanischen Authentizität ebenso eindeutig stark, wie die der Höhenlage geschuldete Signal­haftigkeit des rekonstruierten Gesamt­komplexes. Weimar hingegen wirkt zerklüftet und paradox, ist hypertroph mit seinen pausenlosen Deutungs­angeboten und chronischen Aufbruchs­versuchen, maßlos in seinem Anspruch auf Totalität und auf Kunst, rigoros bis antihuman in der Konsequenz seiner Ideologien. Seine historischen Bezugspunkte sind disparat, ambivalent und unauslotbar. Die menschlich dimensionierte und weltoffene Topographie der Kleinstadt mit dem Kulturnetzwerk der Klassik Stiftung als Hauptakteur erweist sich als aufnahmefähig für narrative Zuströme und programmatische Höhenflüge. Die inkommensurable Intellektualität des immateriellen Erbekerns der Literatur und Philosophie ist nicht nur fruchtbare und tragfähige Basis, sondern auch einschüchternde Herausforderung für strategische Neu­orientierungen. Ideologisch kontaminierte Geschichts­konstruktionen und der quälende Zusammenhang von Aufklärung und Inhumanität, Moderne und Totalitarismus, der sich im 20. Jahrhundert unauslöschlich in die DNA Weimars eingeschrieben hat, ist schwerste Hypothek, doch ebenso Anstoß und Stoff für die Weiterarbeit am Mythos.

III. Wissenstopographie Klassik Stiftung Weimar

In Weimar bündeln sich Kontinuitäten und Diskontinuitäten der deutschen und europäischen Geschichte auf engem Raum. Weimar war ein Experimentier­feld für visionäre Zukunftsideen im Spektrum des Menschen­möglichen: von Reformation und Humanismus über Aufklärung und Klassik bis zur ersten parlamentarischen Republik auf deutschem Boden, gefolgt von drei weiteren Umstürzen diametraler Gesellschafts­systeme im 20. Jahrhundert. Kunst und Macht gingen dabei immer enge Partner­schaften ein; Künstler und Intellektuelle erhielten hier große Einfluss­möglichkeiten: vom Bilder­unternehmen der Cranachs, die die Lehren Luthers im Heiligen römischen Reich deutscher Nation verbreiteten, über die europaweit einfluss­reichen Intellektuellen der Goethe-Zeit, die überhaupt erst eine bürgerliche kritische Öffentlichkeit in den deutschsprachigen Ländern schufen, bis zum Staatlichen Bauhaus mit seinen avantgardistischen Gestaltungs­ideen für eine internationale Industrie­moderne. Die historischen Ursprungs- und Handlungsorte sind in Weimar durch Sicht­achsen und kurze Wege miteinander verbunden. Durch einen fast ununterbrochenen, epochen­übergreifenden Zusammenhang in der Überlieferung und Überschreibung, den Rezeptionen und Revisionen, ist hier ein besonders dichtes, aufschlussreiches Gewebe aus historischen Tiefen­bezügen und Quer­verbindungen entstanden.

Die Klassik Stiftung Weimar trägt die Verantwortung für das materielle und geistige Erbe zweier wesentlicher Epochen der deutschen Kultur­geschichte: der sogenannten Weimarer Klassik um 1800 und der frühen Bauhaus-Moderne – auch dies ein unvollendetes Projekt, das seiner Re-Definition unter sozial-ökologischen Vorzeichen harrt. Damit ist die Stiftung zuständig für Schauplätze und Gesellschafts­entwürfe, die für Selbst­verständnis und Aktionsrahmen der Gesellschaft von Heute grundlegend sind. Die ideellen Erbschaften sind nicht nur in Handschriften und Büchern, in Literatur und Philosophie zu finden. Sie werden in viel­fältigen Sammlungen und ihren überlieferten Ordnungs­systemen, in den Gesamt­kunstwerken ihrer räumlichen Verortung und nicht zuletzt in der gestalteten Natur der historischen Parks auch konkret. Anders als die kompakte Profil­institution Wartburg breitet sich die Klassik Stiftung in Form einer historisch gewachsenen, räumlich-urbanen Netzstruktur aus Kultur- und Forschungs­institutionen, Baukomplexen und Landschafts­parks über den Stadtraum Weimars bis in Ausläufer des Thüringer Walds aus. Deshalb ist sie am besten als eine Topographie aus bis heute wirksamen Wissens­schichten und Wandlungs­prozessen zu beschreiben, in der sich physische Orte und ideelle Denksysteme in Zeit und Raum verknüpfen.

Das sind ideale Bedingungen nicht nur für ein aktives Verstehen von geschicht­lichen Zusammenhängen, sondern auch für die permanente Produktion von kultureller Bedeutung. Die Topographie-Struktur wirkt sich konstituierend auf Selbstverständnis und Programm der Stiftung aus. Ihr folgt der flanierende Modus des Eintauchens in das Ganze oder auch nur Bruch­stücken davon, die persönliche Erfahrung, selbstbestimmtes Lernen und individuelles Verstehen möglich macht – das, was Goethe einmal Herzensbildung genannt hat. Ebenso wesentlich sind die sensuellen Qualitäten des ganz­heitlichen Erlebnisraums, die das Entspannen und Genießen erleichtern, was Entlastung von Absolutheits­ansprüchen jeglicher Art und Trost bedeuten kann. Die Topographie erfordert das Parcours­prinzip der Programm­gestaltung. Das bestimmt die Themenjahre mit ihrer sich gegenseitig stärkenden Vielfalt von kleineren und mittleren Ausstellungen und Angeboten, begünstigt die offenen Dialog- und Diskursformate für ein extrem breites Publikums­spektrum, von der Fachöffentlichkeit bis zum Familienabend, und prägt die Workshop- und Outreach-Programme für Weimar und den ländlichen Raum. Hierin begründet sich auch der konzeptionelle Verzicht auf Blockbuster­formate und das – kultur­geschichtlich gut legitimierte – Bekenntnis zu einerseits konzentrierten, eher konzeptuellen und andererseits geselligkeits­fördernden Formaten, die den Orts- und Sammlungsbezug voll ausspielen.

Das ebenso wichtige Netzwerk­verständnis in der komplexen Organisations­struktur hingegen entfaltet den notwendigen sanften Zwang zur besseren Abstimmung, Kooperation und zu gemeinsamen Zielen zwischen den profilierten Leit­institutionen unter dem Schirm der Stiftung. Die Einrichtung kann sich dabei nicht nur auf ihr 33-jähriges Bestehen nach dem Gesellschafts­umbruch von 1990 berufen, sondern auch auf das knappe halbe Jahrhundert einer engverwandten, ähnlich strukturierten und ambitionierten Vorgänger­institution in der DDR – der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar. Allein die Direktion Museen umfasst 21 Schlösser und Schauräume, Dichter- und Künstlerhäuser sowie die Museen für moderne Kunst und Design – allen voran das 1885 gegründete Goethe-Nationalmuseum und das 2019 eröffnete Bauhaus-Museum. Bei der Herzogin Anna Amalia Bibliothek und dem Goethe- und Schiller-Archivs handelt es sich um außer­universitäre Forschungs­einrichtungen von nationalem und internationalem Rang, während die sechs historischen Parks in und rund um Weimar die besucher­stärksten und pflege­intensivsten Liegenschaften der Stiftung sind, die eben auch als Bauherrin für die Denkmalpflege von 74 Bauwerken und 150 Hektar Gartenanlagen verantwortlich ist. In Museen, Archiv und Bibliothek werden Sammlungs­komplexe mit rund 270.000 Kunstobjekten und Ausstattungs­stücken, 1,2 Millionen Büchern und E-Ressourcen sowie fünf Millionen Blatt Handschriften bewahrt, wissenschaftlich erschlossen, digitalisiert und für Forschung, Bildung und Genuss bereitgestellt. National und international singuläre Schwerpunkte sind handschriftliche Dichter- und Musikernachlässe, die Inkunabel- und Stammbuchsammlung sowie eine zirka 230.000 Blatt große Graphische Sammlung, die einen Überblick über die europäische Entwicklung vom 15. bis zum 21. Jahrhundert bietet.

Dieses Netz mit vielen Knoten braucht die Einbettung in stabile Arbeits­beziehungen, die Interaktion seiner Institutionen und Akteure untereinander und mit ihrer Umwelt. Zweifellos ist diese Komplexität anstrengend, zugleich aber kostbarer Rohstoff und notwendige Triebkraft für Information, Intelligenz und Innovation. Damit muss die Klassik Stiftung Weimar als eine der großen Gedächtnis­institutionen der Bundesrepublik in Trägerschaft von Bundes­regierung, Freistaat Thüringen und Stadt Weimar gelten. Zwölf ihrer Einrichtungen und Liegenschaften sowie der schriftliche Nachlass Goethes sind UNESCO-Welterbe. Das verpflichtet zu globalem Denken. 1999 wurde daher aus der Stiftung heraus Weimar als Kulturhauptstadt Europas vorgeschlagen und dann auch in kritischer Reflexion hegemonialer europäischer Denk- und Deutungsmuster mit überzeugendem Erfolg konzipiert.

Zwanzig Jahre später ist die Welt eine andere: Globalisierung, Digitalisierung, die Transformation gesellschaft­licher Strukturen und Systeme, ökonomisch und psychisch belastende Auswirkungen des irreversiblen Klimawandels, das Ringen um Demokratie als zukunfts­fähiges Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell, eine weltweite Pandemie und Krieg in Europa… Eine bis dato unvorstellbare Eskalation der Krisen und Aufgaben stellt vieles in Frage, was die westliche Welt seit der frühen Neuzeit und insbesondere dem Beginn der auf fossiler Verbrennung beruhenden Kapital­akkumulation des Industrie­zeitalters ausmacht, dessen erste Anzeichen Goethe schon ahnend beschrieb. Noch bis vor wenigen Jahren galt die Leiterzählung des Fortschritts, in den die religiöse Heils­gewissheit als kultureller Code eingeschrieben war. Das Ende dieser Illusion muss Basis sowohl der nüchternen Analyse, als auch möglicher neuer Zukunfts­entwürfe sein.

Auf den Strukturwandel in der Gesellschaft will auch die Klassik Stiftung Weimar Antworten finden. In Vorbereitung darauf wurden 2019 ein Perspektiv­wechsel mit drei Aspekten und ein Strategie­prozess eingeleitet. Es geht ans Eingemachte, um Selbstverständnis und Philosophie, an das, was die Institution im Innersten zusammenhält. Es gilt eine prinzipielle Neuorientierung nach außen, auf Gegenwart und die Zivil­gesellschaft als Adressat anzustoßen, als Voraus­setzung dafür, offener, verständlicher und gesellschaftlich wirksamer zu werden. Dabei ist es notwendig, die vielgliedrige, aufgrund von historisch fundierten Eigenlogiken und Spezialpraktiken auseinanderstrebende Organisation mit mehr als 400 Kolleginnen und Kollegen für eine gemeinsam getragene Intention zu begeistern und zu verpflichten: die Wissens­topographie Weimar in ihrer einzigartigen Dichte, sinnlichen Qualität und erinner­ungs­kulturellen Ambiguität als Ressource für Existenzfragen im 21. Jahrhundert zu aktivieren. Die vielfältigen Erbschaften zu einer Produktivkraft für das Heute und Morgen zu machen, ohne den Gefahren charakterlos verkürzender Aktualisierungen zu erliegen.

Damit strebt die Weimarer Stiftung nicht weniger an, als mit ihrem unverwechsel­baren Gesamt­zusammenhang aus historischen Sammlungen und Orten, Ordnungen und Ideen eine ihren Potentialen angemessene Pionierrolle in gesellschaft­lichen und wissenschaft­lichen Diskursen zu übernehmen. Besonders die spezifischen Potentiale der Weimarer Spät­aufklärung und des frühen Bauhauses sind für notwendige Transformations­prozesse unserer Gegenwart aufzuschließen, zu debattieren und zu nutzen. Als Kultur­institution, die Orientierungs­wissen ermöglicht, rückt die Klassik Stiftung drei Ebenen in den Fokus ihrer geistes­gegenwärtigen, geschichts­hermeneutischen Verantwortung: die historischen Orte in ihrer Materialität und Diversität, die Sammlungen und Bestände in ihrer Überlieferungs­dichte sowie die komplexen Institutions­geschichten und ihre paradoxen erin­nerungs­kulturellen Implikationen. Neben Substanz­rettung und dem Bewahren von Zeugnissen, Denkmalen und Daten treten das Weiterentwickeln von Infrastrukturen und ihr nachhaltiges Management in integrierten Betriebs- und Nutzungskonzepten in den Vordergrund. Als Ort der sammlungs­bezogenen Forschung schärft die Stiftung in nationalen und internationalen Netzwerken ihr Profil durch Konzentration auf Kernexpertisen und wissenschaftliche Exzellenz, die explizit den Kontakt zur Gesellschaft sucht. In Bildung und Vermittlung setzt sie auf den Austausch mit Akteuren der Zivil­gesellschaft. Als demokratische Institution will die Stiftung Impulsgeberin und Brückenbauerin zwischen Wissenschaft und diversen Öffentlichkeiten sein, Übersetzerin geschichtlicher Tiefen­dimensionen ins gegenwärtige Leben.

Das heißt, der Klassik Stiftung Weimar komplexere Narrative anzumessen und diese in Versuchs­anordnungen so lange zu testen und zu verändern, bis sich Einsichten und Aussichten auf Weiterführendes, Öffnungen und Lösungen erkennen lassen. Diesen Plan intelligent, nachhaltig und zukunftsfähig Wirklichkeit werden zu lassen, setzt voraus, dass er sich unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts als plausibel und praxistauglich erweist.

IV. Labor der Humanität

„Weimar ist ein
Kommunikationsort
für alle Fragen.“
Stéphane Hessel, Was wird Buchenwald einmal bringen[7]

Auf unserer Agenda steht also ein Weiter­arbeiten am Mythos. Dabei gilt es zu ergründen, ob sich beim Versuch seiner äußersten Verformung Möglich­keiten alternativer Erzählungen und Praktiken heraus­kristal­lisieren, die wir in der gegen­wärtigen Welt gut gebrauchen könnten. Vor der Folie des unheilbaren Konnexes von Hochkultur und Kulturbruch, Klassik und Konzentrations­lager, gehen wir darum das Wagnis ein, die Klassik Stiftung Weimar als einen Kommunikationsort für alle Fragen, als ein spezifisches Experi­mentier­feld für die unlösbaren Widersprüche der menschlichen Existenz und die unerledigten Projekte der Aufklärung und Moderne anzubieten – was vielleicht als ein reflexives, kritisches, ja kontroverses „Labor der Humanität“ bezeichnet werden könnte. Dafür müssen wir uns allerdings auf einen längeren empirischen Weg von Versuch und Irrtum einlassen, auf ein Aufbrechen, Scheitern, Weitermachen, Besserscheitern – frei etwa nach Charles Olsons „Ich versuche rauszufinden, wie man die Materialien, an denen ich interessiert bin, werfen muss, damit sie einschlagen.“[8] Andere Wege sind denkbar.

Im Kern handelt es sich um eine Neucodierung des kulturellen Potentials – im Bewusstsein, dass kulturelle Aneignung immer kritische Transformation bedeutet. Zur Diskussion stehen Kultur­begriff und Wertekanon in unserem Land. Wie soll eine gute Gesellschaft heute, wie muss ein lebenswertes Leben morgen aussehen? Die alte Bauhaus-Frage neu gestellt: "[…] welche Formen des Gemein­wesens wollen wir erstreben"?[9] Es gilt, einen Stil­wechsel der öffentlichen Stimmung zum Konstruktiven und Positiven hin zu gestalten. Wer aber kulturelle Zukunfts­konzepts entwickeln will, muss starke Geschichten erzählen können. Immerhin – zwei bewegende Visionen sind von Weimar aus schon einmal in die Welt projiziert worden: Das unbedingte Erkenntnis­verlangen der Goethe-Figur Faust „Was die Welt im Innersten zusammenhält“, das wie wir wissen auch in die Katastrophe führen kann, und die „Kathedrale der Zukunft“ – von Lyonel Feiniger in expressiver Emphase für das Bauhaus-Manifest entworfen.

[1] Rembrandt Harmensz van Rijn, Ein Gelehrter im Studierzimmer (Faust), um 1652, Klassik Stiftung Weimar – Grafische Sammlung

[2] Lyonel Feininger, Kathedrale, Titel Bauhaus-Manifest, 1919, Klassik Stiftung Weimar, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Ist es zu vermessen, unsere intel­lektuellen und kulturellen Ressourcen heute kühn auf Entwürfe für die eigene Zeitenwende konzentrieren zu wollen? Auf unsere“ Sattelzeit“,[10] in der neben den alten ungelösten Menschheits­fragen völlig neue Existenz­probleme zu bewältigen sind – von der sozialen Frage über den Demokratie­schwund bis zum Klimawandel? Kluges gesellschafts­politisches Handeln braucht Kontexte, Deutung, Zukunftsbilder, also die historische Tiefen­dimension und kulturelle Erwartungs­horizonte.

An dieser Stelle drei aktuelle kleinformatige Beispiele und ein sehr grundsätzliches Projekt aus der aktuellen Arbeit der Klassik Stiftung Weimar:

1. Im Co-Labor, einer ephemeren hölzernen Teststruktur, die vor dem Residenzschloss Weimar improvisiert wirkt und keineswegs allen gefällt, feierten wir Anfang 2023 die Premiere des Kom­munikations­projekts „Schloss erzählen“. Das größte Baudenkmal der Stiftung ist seit 2018 eine besonders schwierige Baustelle – hier sollen sich einmal Bildung, Forschung, Museum und Stiftungsleitung mit den Direktionen Verwaltung und Schlösser, Gärten Bauten in einem Multifunktionskomplex zusammenfinden. Das offene Schloss wird – neben dem Goethe-Nationalmuseum und dem Bauhaus-Museum – der dritte Hauptknoten im Kulturnetzwerk der Klassik Stiftung, dem neuen Souverän Zivilgesellschaft gewidmet. Voraussichtlich erst 2026 werden wir im Ostflügel zuerst den neuen Empfangs­bereich eröffnen, etwas später in den historischen Schauräumen die „Erfindung Weimars“ zeigen. Während wir jetzt im Innern Mauern freilegen und Oberflächen restaurieren, beim Schwamm­beseitigen um jeden Holzbalken ringen, aber auch Stahlträger einziehen, um den klassi­zistischen Festsaal zu festigen, erzählen wir Schloss­geschichten – in ganz verschiedenen Medien, der Fotografie, des Hörstücks, in Form von Workshops und Literatur. So reißt über die Bauzeit mindestens der Gesprächs­faden nicht ab.

2. Im Thüringer Wahljahr 2024 senken wir Sonden in die ambivalenten Tiefen­schichten des 20. Jahrhunderts, das uns noch unmittelbar angeht. Eine historische Wahl führte am 10. Februar 1924 mit dem Sieg des Thüringer Ordnungsbunds zur ersten von rechtsradikalen Kräften – der Vereinigten Völkischen Liste – geduldeten Landesregierung. Das war der Anfang vom Ende der Weimarer Republik, die sich 1919 nicht ohne Grund in Weimar konstituiert hatte und nach dem Ersten Weltkrieg unter Anrufung des Goethe-Geistes ein besseres Deutschland gestalten wollte. Ein direktes Resultat dieser Wahl war der Auszug des Bauhauses aus Weimar, dem die konservativ-reaktionäre Regierungs­mehrheit mehr als die Hälfte der staatliche Finanzierung strich.[11] Es wechselte auf Einladung des sozialdemokratischen Oberbürgermeisters 1925 nach Dessau, wo es seine Blütezeit mit großen Auswirkungen für das gesamte Jahrhundert gestalten konnte. Wir nehmen aus diesem für Weimar bitteren Anlass erstmals ein heikles Thema im Format einer mehr­teiligen Ausstellung in drei Museen unter die Lupe: Bauhaus und National­sozialismus. Dieser Zusammenhang galt bis weit in die 1990er Jahre als unvereinbarer Gegensatz. Die politisch begründete Vertreibung aus Weimar war das erste Argument für den bis heute lebendigen Mythos der „guten“ anti­faschistischen Institution. Eine differenzierte Aufarbeitung zeigt jedoch, dass sich die moderne Design- und Architekturschule nicht einfach dem verbrecher­ischen System entgegensetzen lässt. Eine Mehrheit der Bauhäusler blieb nach 1933 in Deutschlands Diktatur. Meister und Studierende finden sich nicht nur unter den Opfern, sondern waren auch Profiteure des NS-Regimes. An den Weimarer Gründungs- und Findungsjahren lassen sich mit größter Klarheit die brandgefährlichen Rückzugs­gefechte eines kulturell enteigneten Bildungs­bürgertums und das Wider­spruchs­feld der künstlerisch produktiven und politisch destruktiven Dynamiken der Moderne erkennen.[12] Und schließlich greifen wir die alternativen Versuche eines Neustarts nach dem Zivilisations­bruch auf: die deutschen Staats­gründungen 1949 im Zeichen des kalten Kriegs. Diesseits und jenseits der Stachel­drahtnaht durch Deutschland beriefen sich die kompro­mittierten Eliten auf den Klassiker als wenn nichts gewesen wäre. Nur Karl Jaspers und Richard Alweyn erhoben hörbar Einwände. In Frankfurt/Main und Weimar wurde der 200. Geburtstag Goethes mit analogen Auftritten des Exilanten Thomas Mann gefeiert. In der DDR wusste die Einheitspartei den territorialen Standortvorteil mit der Gründung den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten zu nutzen. 75 Jahre nach der Spaltung Deutschlands richtet sich unser Blick auf Kontinuitäten und Brüche deutscher Kultur­politik im Umgang mit dem Weimarer Erbe.

3. Ein Signal setzt die Klassik Stiftung Weimar aber auch in einer neuen Kooperations­kultur mit lebenden Autorinnen und Dichtern. Am Vorabend des ersten Jahrestags der russischen Invasion am 24. Februar 2022 veröffentlichten wir in unserem Blog ein besonders starkes Stück Literatur der ukrainischen Schrift­stellerin Kateryna Mishchenko, mit der uns seit Frühjahr 2021 eine intensive Arbeitsbeziehung verbindet. „Über uns erstreckt sich toxischer Himmel und das Gift dringt durch uns tief in die Erde ein.“[13] Mishchenkos kurzer, dunkler Text zum Krieg in der Ukraine erinnert an Michail Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“, eine phantastisch-philosophische Parabel über Macht und Ohnmacht der Kunst, über Gut und Böse und den Sieg der Liebe von welt­literarischem Rang, mit dem der Autor den vernichtenden Terror Stalins beschrieb und dessen real­geschicht­lichen Untergang antizipierte.

Mit zeitgenössischen Künstlern denken wir auch über neue Formen der Erinnerung im Goethe-Nationalmuseum nach. Die denkmalgerechte Generalsanierung und museale Neukonzeption sind das sicher anspruchsvollste Infrastrukturprojekt, das die Stiftung in den nächsten zehn Jahren nicht nur beschäftigen, sondern auch verändern wird. Mit „La Casa“ der Multimediakünstlerin Danica Dakic – einer filmischen Ruinen-Erzählung über Erinnern und Vergessen, Erben und Zerstören in Weimar und Rom – beginnen wir den auratischen Schauplatz aufzubrechen für eine andere Art von Erinnerungskultur. Unsere Vision ist, einen ambivalenten Gedächtnisort mit dem Werkstattcharakter eines „Labors der Humanität“ zu verbinden. Denn das Dichterhaus am Frauenplan mitsamt seinen historischen Ausstattungs­schichten, den natur­wissenschaftlichen und künstlerischen Sammlungen, der Gelehrten­bibliothek und den hier hinterlassenen literarischen und wissenschaftlichen Handschriften, Tagebüchern und Briefen war nicht nur ein halbes Jahrhundert lang Lebens­mittelpunkt, Arbeitsort, Denkwerkzeug und Knotenpunkt des europaweiten Netzwerks eines außergewöhnlichen „être collectif“.[14] Auch alle nachgeborenen Generationen haben diesen Ort als nationales Kultursymbol der Sonderklasse mit „ihrem“ Bild von Goethe überformt und zunehmend fiktionalisiert. So entstand ein einzigartig widersprüchlicher Überlagerungs­komplex. Es gibt – so viel wir wissen – weltweit keinen vergleichbaren Ort, an dem sich materielles und immaterielles Kulturerbe und Gegenwart, Kunst und Politik, Provinz und Weltgeschichte so unauflöslich verknüpfen und bis ins 21. Jahrhundert immer noch überzeugende Wirkungsmacht entfalten. Heute ist die Wahrnehmung Goethes als deutscher Nationaldichter selbst historisch geworden. Dennoch kommen Gäste aus aller Welt mit positiven Erwartungen an ein essentielles Kulturerbe der Deutschen hierher.

Die Neukonzeption des Nationalmuseums ist zunächst einmal eine archäologische Such­bewegung. „Wo ist Goethe?“. Es gilt, Goethe als einen europäischen Autor, Künstler, Sammler, Wissenschaftler und Politiker freizulegen. Wir wollen sein Haus als einen europäischen Ort verständlich machen und unser Publikum zu Aha-Erlebnissen verführen: zum Beispiel, dass sich dieser Ort unablässig physisch verändert hat, am stärksten durch Goethe selbst und durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs, oder eben dass es sich um einen Ort unentwegter, teils diametraler Um- und Neudeutungen handelt, die auch ideologische Funk­tionalisierungen und geschichts­politische Fälschungen umfassen. Das historische Ensemble – bestehend aus dem Wohnhaus mit Hausgarten und Garten­pavillons sowie zwei Museu­gebäuden des frühen 20. Jahrhunderts – soll als Denkwerkstatt und Labor eines außergewöhnlichen „Kollektivwesens“ mit allen seinen Lebensbezügen und Produktions­bedingungen erfahrbar werden. Denn hier hat Goethe – immer in Gesellschaft von Lebens­gefährtinnen und Mitarbeitern, Freunden und Inspiratorinnen, Förderern und Kollegen – das Denken und Wissen, die Seinsformen und Praktiken seiner Umbruchszeit verarbeitet und mit originärer Gestaltungskraft zu einer komplexen, immer wieder neu ausdeutbaren Weltsicht geformt. Doch statt eine weihevolle nationale Gedenkstätte soll das Dichterhaus zu einem lebendigen Raum werden – eine europäische Zukunfts­werkstatt mit vielen Beteiligten, vor allem jungen Menschen unterschiedlichster Prägungen, die hier Motivation und Inspiration für ihre eigenen Wege ins Offene gewinnen. Kurz: Mit dem physischen Denkmal wird zugleich seine gesellschaftliche Wirkung im 21. Jahrhundert zukunftsfest gemacht.

V. Tieferhängen. Blick ins Weite

Goethe überfiel – aktenlesend – im romanischen Palas der verfallenden Wartburg 1777 noch eine „unbeschreibliche Unbehagenheit“.[15] Lieber schaute er von hier aus in die Thüringer Gipfel- und Wipfellandschaft. Allein der entlastende Blick nach draußen ließ ihn an die Freundin Charlotte von Stein jubilieren: „wie die nackten Felsspizzen im Monde röthen und die lieblichen Auen und Thäler ferne hinunter, und das weite Thüringen hinterwärts im Dämmer sich dem Himmel mischt.“[16]

Wäre es nicht sinnvoll, regelmäßig nach Abstand vom unbehaglich Einengenden einer überbordenden Historie und einen Ausweg ins Weite zu suchen? Das Weimarer Naturgesetz der Sinnüberschüsse kreativ zu brechen? Und zur Übung eine ausgenüchterte, scharfsinnige, lebensdienliche Weiterarbeit am Mythos in die umgekehrte Richtung aufzunehmen? Ausstieg aus den Zyklen der Erben und Epigonen? Probeweise als Propädeutikum: Auf Widerrede, Weiterdenken, Transformieren setzen, statt auf Rezeption, Reproduktion, Rekonstruktion? Anstelle der ewigen Historisierung, Musealisierung, Philologisierung – ein anfechtbares Einklinken in die Diskurse unserer Tage? Jedenfalls geht es darum, eine Erinnerungskultur zu etablieren, die sich nicht in Fiktionalisierung, Identifikation und Emotionalisierung erschöpft, sondern auf die Wahrnehmung von Differenz und die Fähigkeit zu Differenzierung und Urteilskraft zielt. Auf ein Geschichts­bewusstsein, das reflektierend, nicht restaurativ ist und eher von einer möglichen Zukunft als von imaginären Vergangenheiten träumt: Erinnerung nach vorn.

Fußnoten

[1] Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main, 1979, 6. Auflage 2001, S. 29.
[2] In Anlehnung an Beat Wyss‘ Funktionsdarstellung für Geschichtsschreibung und Denkmalpflege im 19. Jahrhundert, siehe Beat Wyss: Das Kunstdenkmal. Die Erfindung der Vergangenheit. – In: Norbert Bolz u.a. (Hrsg.): Riskante Bilder. Kunst. Literatur. Medien. München 1996, S. 190-200.
[3] Wie Anm. 1
[4] Die nicht belegbare Äußerung der Großherzogin wird durch den Tagebucheintrag von Großherzog Carl Alexander vom 16.4.1885 zum Testament des Goethe-Enkels Walther bestätigt: „Ich las darin mit großer Bewegung, daß dem Staat die Sammlungen und die Häuser Goethes vermacht werden und daß ich deren Leitung übernehmen soll; daß der Großherzogin das literarische und das Familienerbe [richtig ist: Familienarchiv] Goethes zufallen […]. Ich ließ die Großherzogin rufen […]. Sie war auch sehr bewegt, und beide können wir Gott nicht genug danken, daß er geruht hat, diese wichtigen Entscheidungen zum Vorteile des Landes ausfallen zu lassen und zu dem unseres Hauses und daß wir dazu berufen sind – wenn Gott es will und wir es erleben -, das alles zum [Nutzen und] Wohle der Welt zu pflegen.“ – In: Wolfgang Vulpius: Walther von Goethe und der Nachlass seines Grossvaters. Weimar 1962, S. 225.
[5] Die Wartburg“, schrieb Carl Alexander vertraut an die jüdische Schriftstellerin Fanny Lewald, „solle wiederhergestellt werden […], damit sie ein treues Bild gebe, zunächst von ihrer Glanzperiode im 12. Jahrhundert als Sitz mächtiger kunstliebender Landgrafen und als Kampfplatz der größten deutschen Dichter des Mittelalters; und dann später, im Anfang des 16. Jahrhunderts, als Asyl Dr. Martin Luthers und als Stelle, von der der große Glaubenskampf ausging.“ – Zit. nach Rudolf Göhler (Hrsg.): Großherzog Carl Alexander und Fanny Lewald in ihren Briefen 1848-1889. Berlin, 1932, Bd. 1., S. 164f.
[6] Mythos Wartburg. 10 Fragen an die ideale Burg, Begleitbuch zur Sonderausstellung auf der Wartburg, Eisenach, 2023.
[7] Stéphane Hessel, Sohn deutscher Eltern in Paris, Buchenwald-Häftling, französischer Europapolitiker und Menschenrechtler, eröffnete 2011 das Weimarer Kunstfest mit dem Gedenkvortrag: „Was wird von uns und Buchenwald bleiben, was wird Buchenwald einmal bringen? Weimar ist ein Kommunikationsort für alle Fragen.“ – Link: https://www.weimarer-dreieck.org
[8] Charles Olson: Brief an Robert Creeley, 8.3.1953. – In: Schreibheft 45, Essen, Mai 1995, S. 37-39, hier: S. 38.
[9] Walter Gropius: "[...] es ist die brennendste Frage des Tages überhaupt: wie werden wir wohnen, wie werden wir siedeln, welche Formen des Gemeinwesens wollen wir erstreben." – In: Typoskript vom 5.7.1924, Ausstellung des Staatl[lichen| Bauhauses Bauausstellung Stuttgart. Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Staatliches Bauhaus 56, Bl.  59.
[10] Der von Reinhart Koselleck geprägte Begriff bezeichnet die Übergangs- oder Schwellenzeit zwischen Früher Neuzeit und Moderne, insbesondere die Spätzeit der Aufklärung.
[11] Die staatlichen Zuschüsse für das Bauhaus wurden von einem Betrag von 120 000 Mark (1924) auf 50 000 Mark gekürzt. Quelle: Zeitschrift Das Volk vom 3. Januar Nr. 2/1925, Jena. – Zit. nach Volker Wahl (Hrsg.): Das Staatliche Bauhaus in Weimar. Dokumente zur Geschichte des Instituts 1919–1926. Köln, Weimar, Wien 2009, S. 740–743, hier S. 742.
[12] Siehe vor allem Georg Bollenbeck: Weimar. – In: Étienne François, Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte I. München, 2003, S. 207-224 und derselbe: Normative Höhe und tiefer Fall. Weimar – der deutsche Symbolort. – In: Georg Bollenbeck u.a. (Hrsg.): Weimar. Archäologie eines Ortes. Weimar, 2001, S. 206-215.
[13] Kateryna Mishchenko: Krieg und Sprache, Blog Klassik Stiftung Weimar, siehe: https://blog.klassik-stiftung.de/vernichtungskrieg/
[14] Johann Wolfgang von Goethe im Gespräch mit Frédéric So­ret, 17.2.1832: „Was bin denn ich selbst? Was habe ich denn gemacht? Ich sammelte und benutzte alles was mir vor Augen, vor Ohren, vor die Sinne kam. Zu meinen Werken haben Tausende von Einzelwesen das ihrige beigetragen, Toren und Weise, Kinder, Männer und Greise, sie alle kamen und brachten mir ihre Gedanken, ihr Können, ihre Erfahrungen, ihr Leben und ihr Sein; so erntete ich oft, was andere gesäet; mein Le­benswerk ist das eines Kollektivwesens, und dies Werk trägt den Namen Goethe.“ – In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel u. a. Frankfurt a.M. 1985-1999. II. Abt., Bd. 11: Vom Dornburger Aufenthalt 1828 bis zum Tode. Hrsg. von Horst Fleig. Frankfurt a.M. 1993, S. 521 f.
[15] Zitiert nach Étienne François: Wartburg. – In: Étienne François, Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte II. München, 2003, S. 154-170, hier: S. 154. Nach Prüfung der im Goethe- und Schiller-Archiv der Klassik Stiftung Weimar digital edierten Forschungsplattform zu Goethes Biographic „Propyläen“ mit den historisch-kritischen Ausgaben u.s. von Goethes Briefen kann der Begriff in den Briefen an Charlotte von Stein allerdings nicht nachgewiesen werden. Goethe äußert sich positiv zur Wartburg als „Luthers Pathmos“. Das
[16] Johann Wolfgang von Goethe, Brief an Charlotte von Stein, 13. - 16.9.1777. GSA 29/486,I Bl. 58. (Zitierlink: https://ores.klassik-stiftung.de/ords/f?p=402:2:::::P2_ID:11779). Druck in: Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar hrsg. von Georg Kurscheidt, Norbert Oellers und Elke Richter. Bd. 3 I: Briefe. 8. November 1775 – Ende 1779. Berlin, 2014, S. 166-168.

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