In ihrem Gastbeitrag zur Lage im Land bei der Thüringer Allgemeine regt Ulrike Lorenz an, Denkhorizonte und Handlungsräume zu weiten.
Der Maler Otto Dix aus meiner Heimatstadt Gera kommt mir dieser Tage wieder in den Sinn. Als Arbeiterkind geboren, aufgewachsen im Kaiserreich, ausgenüchtert im Ersten Weltkrieg, in der Weimarer Republik als umstrittener Superstar der Neuen Sachlichkeit bekämpft und gefeiert, unter der Nazi-Diktatur verfemt, nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem deutsch-deutschen Künstlerschicksal verdammt – immer zwischen den Stühlen, über Grenzen hinweg und hinaus.
„Ich mal weder für die, noch für die…“ Heute gilt Dix als einer der größten kritischen Realisten des 20. Jahrhunderts. „Skeptisch als Erbteil aus Thüringen“, wie Dix 1963 resümierte – das ist mir sehr sympathisch. Skeptiker verweigern Absolutheitsansprüche jeglicher Profession und Couleur. Für sie gibt es keinen absoluten Text, keine einzig gültige Lesart, kein universales Prinzip, kein total aufgeklärtes Gemeinwesen. Stattdessen: viele Geschichten und grundverschiedene Menschen mit ihren Erinnerungen, Hoffnungen und Vorstellungen vom guten Leben. Worin die Einsicht wurzelt, dass Leute nur halbwegs friedlich miteinander auskommen, wenn sie sich eine Grundausstattung an Anstand, Abstand und gegenseitiger Rücksicht aneignen. Quasi noch vor jeder Bildungsstufe machen diese Voraussetzungen ein Zusammenleben in Gesellschaft erst erträglich.
Und dieses Miteinanderauskommen ist nun einmal für jede persönliche Entfaltung und Sinnerfahrung, für Prosperität, Wohlfahrt und die Vielfalt von Lebensarten in relativer Sicherheit unverzichtbar. Danach erst können sich weitere Rahmenbedingungen eines zivilisierten Daseins auf dem Planeten Erde entfalten: das gemeinsame Bemühen um vernünftiges und wirksames Handeln, das unsere Existenzgrundlagen fördert und nicht zerstört, Verantwortungsbewusstsein über den eigenen Gartenzaun und die private Lebenszeit hinaus, eine fundierte Wahrnehmung des Wirklichen, die Fakten von Fiktionen und Meinungen trennt.
„Der Skeptiker redet mit allen,“ sagt mein Lieblingsphilosoph Odo Marquard. Der Absolutist spricht nur mit Gleichgesinnten. Skeptikerinnen wie ich rechnen damit, dass ihre Haltung und Werte, Erkenntnisse und Entscheidungen nicht die einzigen und vor allem nicht die einzig Richtigen sind. Sie schließen nicht aus, dass Mitmenschen besser sind: ernsthafter im Gespräch mit Andersdenkenden, mutiger im Vorgehen gegen Ungerechtigkeit, gewitzter im Umgang mit Widerspruch, souveräner beim Balancieren von Modernisierung und Tradition, zufriedener mit der Vorläufigkeit unseres Tuns.
„Wir brauchen viele Götter, viele Mythen“, noch einmal Marquard, „Geschichten, die gegen Uniformierung Widerstand leisten.“ Geschichten und jede Menge Lebenserfahrung, die unsere Fähigkeiten trainieren, Unterschiede zu erkennen und einen Unterschied zu machen. Lebenserfahrungen, die wir nicht alle selbst sammeln können, weil sie auch aus längst vergangenen Epochen oder uns unbekannten Regionen und Realitäten herrühren.
Genau dafür brauchen wir Romane, Museen, Archive und Bibliotheken, Philosophie, Theater und Kunst. Sie können uns dabei helfen, unsere Denkhorizonte und Handlungsräume zu weiten, Problemlösungen komplexer und daher lebenstauglicher, unsere Urteilskraft menschlicher zu machen. Sie ermutigen zur Entlastung vom Absoluten, Ganzheitlichen und Endgültigen, für das wir nicht taugen.





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