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Ausstellung „Mut zum Chaos“

#1 | „Mit einem wilden angeborenen Freiheits-, ja Rebellensinn“

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Sie war eine der faszinierendsten und unkonventionellsten Frauen ihrer Zeit: Ottilie von Goethe. Sie gründete ein Journal, dichtete, übersetzte und förderte den englisch-deutschen Kulturtransfer. Politisch aktiv, unterstützte sie eine neue Generation von Autor*innen. Die Ausstellung „Mut zum Chaos – Ottilie von Goethe“ im Goethe- und Schiller-Archiv widmet sich nun ihrem Leben und Werk.

Als mitgiftlose Tochter der Gräfin Henriette Henckel von Donnersmarck kam die 1796 in Danzig geborene Ottilie 1806 nach Weimar, wo die Mutter eine Stelle am Hof erhielt. Ottilie von Pogwisch war phantasievoll, geistreich und originell. Sie glänzte in der Hofgesellschaft und repräsentierte dort eine neue Generation, die für die romantischen Ideen entflammte, aber auch die großen Klassiker Weimars verehrte. In Goethes Haus am Frauenplan war Ottilie von Pogwisch bereits als junges Mädchen ein willkommener Gast. Sie sang sonntags regelmäßig für den Dichter.

Den Bedenken ihrer Familie zum Trotz heiratete Ottilie am 17. Juni 1817 August, den einzigen Sohn Goethes. Seit Jahren kannte sie den bodenständigen Freund und sehnte sich nach Schutz und Stabilität an der Seite eines soliden Mannes. Das Haus am Frauenplan, in dessen Mansarde das frisch vermählte Paar einzog, war das Heim Johann Wolfgang von Goethes – des Dichters der Nation: Ottilie durfte ihn ab jetzt ,Vater‘ nennen. Sie wurde für die Öffentlichkeit die „geniale Schwiegertochter“. Eine neue Zeit für das Haus Goethe begann.

Ihre hervorragenden Kenntnisse der englischen und französischen Sprache ermöglichten es der „Frau Baronin von Goethe“, das Haus am Frauenplan für eine internationale Geselligkeit zu öffnen. Durch ihre Interessen und Kenntnisse wurde die junge Frau eine geschätzte Gesprächspartnerin für Goethe selbst: Die Gedichte des West-östlichen Divans, die Erzählungen aus Wilhelm Meisters Wanderjahren, die späte Lyrik, die neue englische Literatur, die Druckfahnen des Faust II – alles wurde mit der „geliebten Tochter“, mit dem „verrückten Engel“ besprochen, ja sogar revidiert.

Ottilie von Goethe übertrug gemeinsam mit dem Iren Charles des Vœux Goethes dramatisches Werk Tasso ins Englische und edierte dessen zweite Auflage. Sie gründete das mehrsprachige Journal Chaos und gab es heraus.

Windrose, geplante Vorlage für das Titelblatt von Chaos, die nicht genommen wurde, Druck, 1829, Goethe- und Schiller-Archiv, Klassik Stiftung Weimar

Das Journal verfolgte eine außerordentlich originelle Idee: Die Hofgesellschaft, die vielen Gesandten und internationalen Gäste, die englischen Studenten, die seit 1820 die Ilm-Stadt als literarisches Mekka besuchten, die bürgerlichen Verlegerfamilien, die Professoren der Universität Jena, Goethes intellektuelle Kreise und ebenso Ottilies Freund*innen – sie alle konnten Texte in jeder Sprache, die sie kannten, einreichen. Die häufigste Fremdsprache war Englisch. Die junge angelsächsische Gemeinde, die Ottilies Salon besuchte, übte sich hier im Übersetzen der deutschen Klassiker. Um Chaos-Mitglied werden zu können, musste man mindestens eine Nacht in der Ilm-Stadt verbracht haben und bereit sein, den eigenen Namen in den Publikationen zu kaschieren. Maskiert mit einem Pseudonym konnten die Beiträger*innen ihre wahren Gefühle frei aussprechen und die soziale Hierarchie sowie die Kluft zwischen den Geschlechtern überwinden. Sogar Goethe beugte sich amüsiert den Regeln des „höchst originellen Journals“ seiner Schwiegertochter: Er reichte mehrere Texte ein und warb eifrig unter seinen Freunden und Korrespondenten.

Als Apostel einer neuen Ära waren alle Mitarbeiter*innen berufen, gemeinsam von Weimar aus eine neue, offene gedankliche Welt zu erschaffen. Die Mehrsprachigkeit war der Lebenssaft, der die Gesellschaft erneuern und die Muse der Poesie wiederbeleben sollte, wie das Titelblatt der Zeitung programmatisch zeigt: Die Sprachen, dargestellt durch Wappenembleme und eine kleine feierliche Gesellschaft, nähren und stützen einen Baum, der Weimar und die müde Muse der Poesie schützt. Diese faszinierende Sonntagszeitung existierte von 1829 bis 1832.

Robert Froriep, Titelblatt der Zeitschrift Chaos, Druck, 1830, Goethe- und Schiller-Archiv, Klassik Stiftung Weimar

Neben dem öffentlichen Glanz und der warmherzigen Beziehung zum ,Vater‘ führte Ottilie von Goethe eine tief zerrissene Existenz als Ehefrau: Trotz der Geburt der Kinder Walther, Wolfgang und Alma war die Verbindung mit August „durch Beider Schuld sehr unglücklich. Beide standen wie auf offener Szene, und das Publikum verfolgte mit gehässiger Neugier den Fortgang des Dramas“ – so die Freundin Jenny von Pappenheim. Ottilie, die an die „Freiheit der Selbstbestimmung“ glaubte, suchte schon in der Ehe nach einem intellektuell und emotional Gleichgesinnten und sehnte sich offen nach Liebe. 1830 starb August von Goethe auf seiner Italien-Reise in Rom. Ottilie widmete sich der Pflege des Schwiegervaters bis zu seinem Tod 1832. Danach fühlte sie sich frei, ihr Leben nach ihren Regeln zu gestalten und neue Wege für ihre Selbstverwirklichung zu suchen.

Franz Woltreck, Ottilie von Goethe, vergoldetes Bronzemedaillon, 1838, Museen, Klassik Stiftung Weimar

„Mit einem wilden angeborenen Freiheits-, ja Rebellensinn“ sprengte sie bewusst den Rahmen der damaligen Konventionen und lehnte die ihr zugedachte Rolle der ewigen Witwe dezidiert ab. Sie verreiste und verkehrte mit emanzipierten Schriftstellerinnen, unterstützte mit großer Leidenschaft die neuen literarischen und politischen Strömungen in Leipzig und Wien, wurde erneut schwanger und brachte 1835 eine Tochter zur Welt, die sehr früh starb. All das genügte, um das Kopfschütteln und die Vorwürfe eines wieder im Provinzialismus versinkenden Weimars hervorzurufen. 1842 verließ Ottilie von Goethe die Ilm-Stadt und ging nach Wien. Dort starb zwei Jahre später die 16-jährige Tochter Alma an Typhus. Die Liebe zur Kunst, das Interesse für das Aktuellste in der Literatur und in der Gesellschaft, die Freundschaft mit vielen Intellektuellen gaben Ottilie von Goethe die Kraft weiterzuleben. Erst 1870 kam sie nach Weimar zurück und starb zwei Jahre später, 1872, in den Räumen der Mansarde am Frauenplan.

Das Goethe- und Schiller-Archiv, in dem der größte Teil ihres Nachlasses liegt, stellt nun in einer Ausstellung Ottilie von Goethes bislang kaum beachtetes intellektuelles Lebenswerk vor. Gezeigt werden ihre handschriftlichen und gedruckten Gedichte sowie literarischen Texte, Übersetzungen und Rezensionen, die von ihren Rollen als Herausgeberin und Redakteurin der Zeitschrift Chaos, als Agentin des englisch-deutschen Kulturtransfers und als Unterstützerin einer neuen Generation von Autor*innen zeugen. Die Ausstellung zeigt Ottilie von Goethe als geistvolle, vielseitige und weltoffene Frau: Ihr Kampf um die Selbstbestimmung und ihr Mut zu einem schöpferischen Chaos gegen die schablonenhaften Konventionen ihrer Zeit verdienen unsere Wiederentdeckung.

Mut zum Chaos – Ottilie von Goethe ist vom 26. August bis 18. Dezember im Goethe- und Schiller-Archiv zu sehen. Am 19. Oktober und 16. November führt Kuratorin Dr. Francesca Fabbri jeweils um 16 Uhr durch die Ausstellung. Weitere Informationen und das Begleitprogramm finden Sie hier.
Parallel zur Ausstellung im Goethe- und Schiller-Archiv präsentiert die Herzogin Anna Amalia Bibliothek im Foyer des Studienzentrums zwei Bücher aus der Privatbibliothek Ottilie von Goethes, die sie vermutlich von Goethes als Geschenk erhielt. 
Mehr über die Bibliothek Ottilies in Weimar erfahren Sie auf auf dem Blog der „Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek“.
Begleitpublikation: Francesca Fabbri (Hg.): Ottilie von Goethe – Mut zum Chaos. Weimarer Verlagsgesellschaft in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2022.

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