Abbildung eines Zettels auf dem Nietzsche seine Gedanken niedergeschrieben hat © Klassik Stiftung Weimar – Goethe-und Schiller-Archiv
Digitalisierung, Erschließung und Edition

Nietzsche digital

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Der gesamte handschriftliche Nachlass Nietzsches im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar wurde digitalisiert, erschlossen und ist nun für die Forschung verfügbar.

Im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten in­ter­na­tio­na­len Projektes Digitale Faksimile-Gesamtausgabe Nietz­sches (DFGA) wurde der gesamte handschriftliche Nach­lass Nietz­sches, der sich seit 1950 im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar befindet, digitalisiert, erschlossen und für die Forschung zugänglich gemacht. In zwei Projektphasen zwischen 2015 bis 2018 und 2021 bis 2023 erfolgte die Digitalisierung aller Manuskripte Nietzsches im Besitz des Goethe- und Schiller-Archivs sowie die Onlinestellung über die Ar­chiv­da­ten­bank . In Zu­sam­men­ar­beit mit dem Institut des textes et manuscrits modernes am CNRS in Paris werden die Handschriften Nietz­sches in Form einer digitalen Ausgabe auf der For­schungs­platt­form Nietz­sche Source veröffentlicht.

Geschichte des Nietzsche-Nachlasses: Vom Nietzsche-Archiv bis zur Digitalen Faksimile-Gesamtausgabe

In den ersten Januartagen 1889 brach Friedrich Nietzsche in Turin zusammen. Von diesem Zusammenbruch erholt er sich nie mehr und verblieb, bis zu seinem Tode am 25. August 1900, in einem Zustand zunehmender geistiger Um­nach­tung. Am 19. Ja­nu­ar 1889 sendet Nietzsches Wirt in Turin, Davide Fino, eine 116 Kilogramm schwe­re Kiste mit Ma­nu­skrip­ten und Büchern des Philosophen an Franz Overbeck nach Basel. Von dort gelangt die schwer­gewichtige Sendung weiter nach Naumburg und schlie­ß­lich nach Wei­mar, wo ab 1896 das Weimarer Nietzsche-Archiv entsteht. Es ist Eli­sa­beth Förster-Nietzsche zu verdanken, dass das Nietzsche-Archiv gegründet wur­de und die meisten Dokumente zum Leben und Werk ihres Bruders zu­sam­men­ge­führt werden konnten. Aber unter den Händen der Schwester entfaltet sich auch eine Ge­schich­te zahlreicher Verfälschungen: Manuskripte wurden teils manipuliert, zu­rück­ge­hal­ten und zerstört. Während Nietzsche mehr und mehr dem Wahnsinn verfällt, wurden seine Papiere im Nietzsche-Archiv unter Verschluss gehalten. Au­ßen­ste­hen­den Wissenschaftlern waren die begehrten Dokumente damit un­zu­gäng­lich, so auch für Philologen, die sich um eine Herausgabe der gesammelten Werke bemühen woll­ten. Erst nach dem Tode Elisabeths im Jahre 1935 hatten die Herausgeber der His­tor­isch-kritischen Gesamtausgabe Zugang zu allen Ma­nus­krip­ten, einschließlich zu sie­ben Kisten mit Dokumenten, die Elisabeth persönlich verwahrte. Zu diesem Zeitpunkt kam das ganze Ausmaß der Fäl­schun­gen ans Tageslicht. Durch den Krieg wurde die Arbeit an der Historisch-kritischen Ausgabe unterbrochen und schließlich nach der Niederlage Deutschlands eingestellt. Im April 1945 wurde Weimar zunächst von ame­ri­ka­ni­schen und einige Monate später von russischen Truppen besetzt. Die So­wje­ti­sche Militär­ad­mi­nis­tra­tion schloss das Nietzsche-Archiv kurzerhand, das nicht zu Un­recht als gefährliches Zentrum von Nazi-Propaganda betrachtet wurde.

Alle Materialien wurden in Kisten verpackt und versiegelt. Im Herbst 1950 erfolgte die Überstellung von 111 Kisten mit nachgelassenen Papieren und Büchern Nietzsches an das Goethe- und Schiller-Archiv. Ab August 1951 waren die Ma­nus­krip­te Nietzsches, selbst hinter dem Eisernen Vor­hang, theoretisch zum ersten Mal für Studenten und Wis­sen­schaft­ler zugänglich. Im April 1961 besuchte Mazzino Montinari im Auftrag Giorgio Collis zum ersten Mal Weimar. Dies war die Geburtsstunde des wegweisenden Projektes der Kritischen Gesamtausgabe, welches nur durch das präzise und gründliche Studium der ori­gi­na­len Dokumente und die Unterstützung der Weimarer Institutionen möglich wurde.

Die Digitalisierung des Nachlasses im 21. Jahrhundert schlie­ßt an die Bestrebungen der beiden herausragenden ita­lie­ni­schen Forscher an, den Nachlass Nietz­sches für die For­schung frei verfügbar zu machen. Das Projekt der Digitalen Faksimile-Gesamtausgabe (DFGA) entstand aus einer Ko­ope­ra­ti­on des Goethe- und Schiller-Archivs mit dem Institut des textes et manuscrits modernes (ITEM) in Paris. Der Direktor des französischen Institutes, das am CNRS und an der École normale supérieure angesiedelt ist, Prof. Dr. Paolo D‘Iorio realisierte bereits Ende der 1990er Jahre erfolgreiche Projekte, die sich darauf konzentrierten, Internettechnologien für die Nietzsche-Forschung gewinn­bringend einzusetzen und weiterzuentwickeln, di­gi­ta­le Nietz­sche-Editionen zu erstellen und eigene genetische Editionsmethoden zu begründen.

Im Rahmen eines dieser Projekte hatte D'Iorio als Preisträger der Humboldt Stiftung bereits in den frühen 2000er Jahren Tei­le der Bestände digitalisieren lassen. Da sich im folgenden Jahrzehnt die Scantechnologie rasant verbesserte und das eigentliche Digitalisierungszeitalter begann, konnte die sys­te­ma­tische Digitalisierung des ge­sam­ten Nietzsche-Nach­las­ses als eigenständiges Projekt unter neuen technischen Bedingungen in Angriff genommen werden.

Digitalisierung im Goethe- und Schiller-Archiv

In zwei von der DFG geförderten Projekten in den Jahren 2015 bis 2018 sowie 2021 bis 2023 wurde der gesamte im Goethe- und Schiller Archiv befindliche Nietzsche-Nachlass im Umfang von fast 70.000 Seiten digitalisiert. Der im Goethe- und Schiller-Archiv aufbewahrte Nachlass Nietzsches umfasst No­tiz­bü­cher, Arbeits- und Studienhefte, lose Blattsammlungen, Druckmanuskripte und Kom­po­sitionen. Auch der größte Teil des Briefwechsels Nietzsches mit über 200 Kor­re­spon­denz­part­nern ist hier archiviert. Dazu kommen persönliche Unterlagen und Le­benszeugnisse vielerlei Art; darunter Schul- und Studienunterlagen aus seiner Ju­gend­zeit, berufliche Dokumente und Finanz­unter­lagen, Materialien aus der Lehr­tä­tig­keit, Noten aus Nietz­sches Besitz, Dokumente aus der Haushalts- und Wirt­schafts­füh­rung, Sammlungs- und Erinnerungsstücke, Vi­si­ten­kar­ten, Krankenakten, Vor­le­sungs­nach­schriften und Fotografien. Alle Manuskripte aus Nietzsches Nachlass die im Goethe- und Schiller-Archiv als Be­stand 71 geführt werden, wurden im Laufe des Projektes digitalisiert und sind über die Ar­chiv­da­ten­bank frei abrufbar.

Vor der Digitalisierung erfolgt für alle Archivalien eine um­fas­sen­de konservatorische Kontrolle. Blatt für Blatt wird dabei von erfahrenen Papierrestauratoren geprüft, ob die wertvollen unikalen Archivalien im aktuellen Zustand für eine Digitalisierung über­haupt geeignet sind. Werden dabei Schäden entdeckt, die beim späteren Di­gi­ta­li­sie­rungs­vor­gang ein Objekt stark gefährden, wie zum Beispiel lange Risse in der Schrift, gilt es, diese zunächst zu beheben. Text­bereiche, die durch umgeknickte oder ein­ge­roll­te Blatt­kan­ten und andere Papierfragmente im Digitalisat nicht vollständig lesbar wären, werden ausgebessert und ge­glät­tet. Zudem erfolgen Trockenreinigungs- und Neu­ver­pa­ckungs­maß­nah­men, die im Sinne der Konservierung die sichere Hand­ha­bung der Archivalieneinheiten beim Di­gi­ta­li­sie­rungsvorgang gewährleisten.

Die qualitätsgesicherte Digitalisierung, die eine möglichst originalgetreue Wider­gabe der Objekte gewährleistet, erfolgt farb- und größenreferenziert, indem ein Farbkeil und ein Lineal auf den Digitalisaten mit ausgegeben werden. Nach er­folg­ter Digitalreproduktion durchläuft jedes ein­zel­ne neu erzeugte Digitalisat eine Qua­li­täts­prü­fung, wobei es mit dem Original verglichen wird und die korrekte Reihen­folge, Nummerierung und Zuordnung der Aufnahmen zu den Metadaten gesichert werden.

Aufbereitung in Form einer digitalen Edition

Auf der Forschungsplattform Nietzsche Source werden alle Digitalisate in der Form einer digitalen Edition aufbereitet und dort nach und nach veröffentlicht. Nietzsche Source besitzt ein eigenes Referenzsystem, das ein­zel­ne Seiten mit stabilen Internet­adressen identifiziert, die einfach in der For­schung zitiert werden können. Die URLs korrespondieren dabei mit klas­si­schen Siglen aus der Nietzscheforschung, um Ein­ver­nehm­lich­keit zwischen der elektronischen und der ge­druck­ten Ausgabe herzustellen. So kann, zum Beispiel, die Seite 4 des Ma­nu­skrip­tes Z II 5 (GSA 71/143) unter folgender Adresse aufgerufen werden: www.nietzschesource.org/DFGA/Z-II-5,4.

Darstellung einer Seite auf der Benutzeroberfläche der DFGA, © Klassik Stiftung Weimar – Goethe-und Schiller-Archiv

Die Seite stellt Bearbeitungswerkzeuge für die Darstellung der Abbildungen bereit und alle Originaldateien lassen sich uneingeschränkt herunterladen. Eine Be­son­der­heit der Webseite ist, dass die Sei­ten nach editorischen Kriterien nummeriert und an­ge­ord­net sind. Dabei werden bestimmte Regeln für die Darstellung von Sonder­sei­ten (wie Beilagen, angeklebte Zettel, herausgerissene Seiten etc.) befolgt. Die Ausgabe hält sich an bestehende Klassifikationen, korrigiert diese aber bei Bedarf.

Über eine Kontextualisierungsseite, genannt Contexta, lassen sich alle Informationen und Metadaten eines Digitalisates einsehen. Hierzu gehören etwa Beschreibungen, Kom­men­ta­re, Annotationen, Zeitschriftenzitationen, die auf ein Manuskript oder eine einzelne Seite Bezug nehmen. Dies beinhaltet auch Transkriptionen aus der Digitalen Kritischen Gesamtausgabe Werke und Briefe (eKGWB). Alle Daten und Res­sour­cen, die aktuell und in Zu­kunft auf der For­schungs­plat­tform gesammelt werden, lassen sich dadurch mit­ein­an­der in Beziehung setzen.

Darstellung einer Verknüpfung von Digitalisat (DFGA) und Transkriptionen (eKGWB) auf Nietzsche Source, © Klassik Stiftung Weimar

Begleitend zur Digitalisierung erfolgte eine vertiefende Erschließung der Ma­nu­skrip­te. Die Ergebnisse werden unter dem Contexta-Feld „Beschreibungen“ wie­der­ge­ge­ben. Neben der Archivsignatur sind dort historische Signaturen und Ab­fas­sungs­zei­ten vermerkt. Darüber hinaus wurden historische Manuskript­beschreibungen ge­sam­melt und neue, heutigen Regeln folgende Beschreibungen an­ge­fer­tigt. Die ent­hal­te­nen Angaben gehen vielfach über die in der Archivdatenbank des Goethe- und Schil­ler-Archivs üblichen Verzeichnungsangaben hinaus und erweitern damit das Nut­zungs­spek­trum deutlich. Als Quellen dienten ältere Be­schrei­bun­gen, bestehende Ver­zeich­nis­se, Kommentarbände der kritischen Edition sowie Forschungsliteratur.

Übersicht mit Beschreibungen zu einem Manuskript in Contexta, © Klassik Stiftung Weimar

Über eine Zeitleiste lässt sich nachverfolgen, in welchen Zeiträumen Nietzsche jeweils bestimmte Dokumente verfasst hat und es können konkrete Schreibprojekte in ver­schie­de­nen Schaffensphasen rekonstruiert werden. Eine erweiterte Suchmaske er­mög­licht es, die Ausgabe nach verschiedenen Kriterien zu filtern und die Be­schrei­bungs­tex­te im Voll­text zu durch­su­chen.

Die Idee einer Faksimile-Gesamtausgabe hat die Nietzsche-Forschung seit ihren An­fän­gen begleitet. Eine vollständige Reproduktion des Nachlasses schien jedoch für lan­ge Zeit unmöglich. Die vollständige Digitalisierung des Nietzsche-Nachlasses und die freie Be­reit­stel­lung der Digitalisate im Internet ist ein wichtiger Meilenstein für die Nietzsche-Forschung.

Der Zugang zu den Originalen ist immer noch unerlässlich, um diejenigen Teile der Kritischen Gesamtausgabe fer­tig­zu­stel­len, die bislang noch nicht bearbeitet wurden und jene Teile, die bereits veröffentlicht sind, zu prüfen und bedarfs­be­zogen zu re­vi­dieren. Die Konsultation der Originale ist überdies notwendig, um neue und qualitäts­gesicherte Transkriptionen anfertigen zu können und neuwertige, kritische, di­plo­ma­ti­sche oder genetische Editionsformen zu erproben. Damit sind Text­aus­ga­ben ge­meint, die den Wortlaut eines Textes sehr genau wiedergeben und die edi­to­ri­schen Entscheidungen in einem textkritischen Apparat dokumentieren. Genetische Edi­tio­nen rekonstruieren darüber hinaus auch den Entstehungsprozess eines Werkes und zeigen im Falle von Nietzsche, wie dieser seine Texte schrittweise und mit viel Be­dacht in verschiedenen Schreibstufen entwickelte. Die digitalisierten Handschriften und die Digitale Faksimile-Gesamtausgabe bilden damit eine wesentliche Grundlage für Forschungs- und Editions­pro­jek­te, die direkt auf diesen digitalen Ressourcen auf­bau­en können. Die Nutzungszahlen für den Zugriff auf die Di­gi­ta­li­sa­te sind über die Jahre kontinuierlich gestiegen und zahlreiche Editions- und Forschungsprojekte im In- und Aus­land nutzen diese erfolgreich für ihre Arbeit.

Im Verlauf des Projektes ist eine besondere Synergie entstanden: Das Goethe- und Schiller-Archiv unterstützt die internationale Nietzsche-Forschung, indem es Archiv­gut mit modernen, zeitgemäßen Methoden erschließt und mit digitalen In­stru­men­ten großen Nutzungskreisen online zur Verfügung stellt. Die französische For­schungs­grup­pe am ITEM steuert ihr langjährige Kompetenz im Erstellen di­gi­ta­ler Editionen und der Interpretation moderner Hand­schrif­ten bei. So wurde ein Mehr­wert geschaffen, der über die Kernaufgaben der beiden Institutionen hinausgeht und die Forschung gewinnbringend fördert.

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