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Franz Kafka und Max Brod in Weimar

Zu Gast bei toten Großvätern

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Im Sommer 1912 reisen Franz Kafka und Max Brod nach Weimar. Ihre Tagebücher erzählen von einer teils vergeblichen Suche nach Goethe – und einer unverhofften Liebe. Ein Beitrag zum 100. Todestag von Franz Kafka

Im Sommer 1912 reisten die Schriftstellerfreunde Franz Kafka und Max Brod nach Wei­mar. Sie kamen in einer „Stimmung verehrungsvoller Dankbarkeit“,1 besonders für Goethe, auf dessen Spuren sie sich in Weimar begaben. Schon von Beginn an stand ihre Reise im Zeichen der Schrifstellerei: Auf dem Hinweg führten sie in Leipzig ein Gespräch mit einem Verlag. In Weimar planten sie Treffen mit den zeitgenössischen Schriftstellern Johannes Schlaf und Paul Ernst. Insbesondere die Besuche der Wei­ma­rer Dichterhäuser standen auf dem Programm. Brods Roman Zauberreich der Liebe (1928) verarbeitet die Reise literarisch.

[1] Franz Kafka, 1913, © bpk / Coll. Lumière des roses / adoc-photos

[2] Max Brod, 1920, © bpk / adoc-photos

Kafka und Brod bei Goethe und Schiller

Bereits in Zauberreich der Liebe schreibt Brod von der „Verehrung der Urkraft Goe­thes“.2 Diese mag es auch gewesen sein, die Kafka und Brod noch am Abend ihrer Ankunft in Weimar zum Goethehaus führte. Kafka hielt seine ersten Eindrücke als Stich­punkt­skiz­ze fest: Er betrachtet eingehend die Außenfassade, zählt Gas­sen­fens­ter, beschreibt Vorhänge und geht die Gebäudelinie entlang. Seine Er­grif­fen­heit ist kaum zu überlesen: „Fühlbare Beteiligung unseres ganzen Vorlebens an dem au­gen­blick­lich­en Eindruck.“3

Während ihres Aufenthalts besuchten beide das Goethehaus beinahe täglich. Nur einmal berichten die Tagebücher hingegen vom Schillerhaus. Kafka resümiert, es sei als Schriftstellerwohnung mit „Wartezimmer, Empfangszimmer, Schreibzimmer, Schlaf­al­ko­ven“4 gut an­ge­legt. Das Hauptinteresse der beiden liegt aber auf der im Arbeitszimmer präsentierten Schreibszene – und damit auf dem konkreten Umfeld des literarischen Schaffens. Deutlich tritt für Kafka und Brod hervor, dass es sich um inszenierte, künstlich konservierte Räume handelt. Kafka stört sich an „[n]icht mehr menschliche[n] Haarlocken“.5 Brod berichtet vom entschuldigenden Ton der Mu­se­ums­füh­re­rin, dass man aus den Dingen „so viel Wesen macht“.6

[1] Goethes Arbeitszimmer in Weimar, Foto: Louis Held

[2] Schillers Schreibtisch in Weimar, Foto: Olaf Mokansky © Klassik Stiftung Weimar

Auch im Bericht über das Goethehaus interessieren sich die Schriftsteller für das Schreib­um­feld des Dich­ters. Nicht ohne Empörung stellen Kafka und Brod fest, dass das Arbeitszimmer zu dunkel sei. Gleichwohl, so räumen sie ein, dürfte die den Raum verdunkelnde Buche zu Goethes Lebzeiten niedriger gewesen sein. Doch Kafkas Er­grif­fen­heit beim Anblick der Außenfassade des Goethehauses, das quasi „Au­ra­ti­sche“, scheint in den Innenräumen verflogen. So schreibt er vom „[t]raurige[n] an tote Großväter erinnernde[n] Anblick“.7 Brod fragt sich in seinen Reisetagebuch da­rü­ber hi­naus, warum Goethes Klosett nicht gezeigt werde, und hebt die Vielzahl an Feu­er­lösch­ern hervor.

In Kafkas Aufzeichnungen findet sich dafür noch eine ganz andere Erinnerung: die Begegnung mit Margarethe Kirchner. Kafka war schockverliebt in die Tochter des Hausmeisters. Sie war der eigentliche Grund für die quasi täglichen Besuche im Goethehaus und ermöglichte beiden, die Räume abseits der Öffnungszeiten zu besuchen.

Franz Kafka und Margarete Kirchner, die Tochter des Hausmeister im Wohnhaus von Goethe, © Österreichische Nationalbibliothek

Vergebliche Suche nach Goethe

In den Aufzeichnungen tauchen immer wieder Begriffe des Familiären auf: Kafka schreibt von Großvätern. Brod meint, wenn Kafka über Goethe spreche, wirke es, als „spreche ein Kind von seinem Ahnherrn“.8 Auch in seinem Roman Zauberreich der Liebe schreibt Brod, das Goethehaus außerhalb der Öffnungszeiten besuchen zu können, erzeuge das Gefühl, zur Familie Goethes zu gehören.

Jedoch ist bei Kafka die Rede von „toten Großvätern“, was darauf hindeutet, dass die gesuchte Nähe zu Goethe bei ihm unerfüllt bleibt. Das Tote, Konservierte der Dich­ter­häu­ser bewegt Kafka nicht. Ähnliches gilt für Brod, der mit der Frage nach Goe­thes Klo­sett das „Echte“ und Alltägliche nicht findet. Doch anders als Kafka, der sich ernüchtert und zunehmend abgelenkt zeigt, ist Brod keineswegs enttäuscht: Die An­la­ge der Wohnräume Goethes sei „ganz im Charakter seiner Person, wie ich ihn se­he“.9 Über Goethes Wirken in Weimar resümiert er: „Wie viele seiner Werke stehen nicht in seinen ‚Gesammelten Werken‘. Er hat diese Pärke angelegt, die Bibliothek, das Theater.“10

In Weimar waren Kafka und Brod also zu Gast bei toten Großvätern in einem Wech­sel­spiel von Nähe und Distanz: Die Schreibszenen und Wohnräume standen in Relation zu ihrer jeweils eigenen schriftstellerischen Praxis; die konservierende mu­sea­le In­sze­nie­rung nahm jedoch ein Stück der intimen Verwandtschaft. Trotzdem: ihre Be­wun­de­rung für Goethe wurde durch den Besuch keineswegs geschmälert.

Literaturnachweise

1 Max Brod: Über Franz Kafka. Franz Kafka – Eine Biographie, Franz Kafkas Glauben und Lehre, Verzweiflung und Erlösung im Werk Franz Kafkas. Frankfurt a. M. 1966, S. 109.
2 Max Brod: Zauberreich der Liebe. Zürich 1928, S. 76.
3 Franz Kafka: Tagebücher, 1909–1923. Fassung der Handschrift, mit einer Nachbemerkung von Hans-Gerd Koch. Frankfurt a. M. 1997, S. 797.
4 Ebd., S. 798.
5 Ebd., S. 797.
6 Max Brod: Franz Kafka: Eine Freundschaft. Reiseaufzeichnungen, herausgegeben unter Mitarbeit von Hannelore Rodlauer, von Malcolm Pasley. Frankfurt a. M. 1987, S. 226.

7 Kafka 1997, S. 798.
8 Brod 1966, S. 108.
9 Brod, Kafka 1987, S. 229.

10 Ebd., S. 235.

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