Zu Gast bei toten Großvätern
von /Im Sommer 1912 reisen Franz Kafka und Max Brod nach Weimar. Ihre Tagebücher erzählen von einer teils vergeblichen Suche nach Goethe – und einer unverhofften Liebe. Ein Beitrag zum 100. Todestag von Franz Kafka
Im Sommer 1912 reisten die Schriftstellerfreunde Franz Kafka und Max Brod nach Weimar. Sie kamen in einer „Stimmung verehrungsvoller Dankbarkeit“,1 besonders für Goethe, auf dessen Spuren sie sich in Weimar begaben. Schon von Beginn an stand ihre Reise im Zeichen der Schrifstellerei: Auf dem Hinweg führten sie in Leipzig ein Gespräch mit einem Verlag. In Weimar planten sie Treffen mit den zeitgenössischen Schriftstellern Johannes Schlaf und Paul Ernst. Insbesondere die Besuche der Weimarer Dichterhäuser standen auf dem Programm. Brods Roman Zauberreich der Liebe (1928) verarbeitet die Reise literarisch.
Kafka und Brod bei Goethe und Schiller
Bereits in Zauberreich der Liebe schreibt Brod von der „Verehrung der Urkraft Goethes“.2 Diese mag es auch gewesen sein, die Kafka und Brod noch am Abend ihrer Ankunft in Weimar zum Goethehaus führte. Kafka hielt seine ersten Eindrücke als Stichpunktskizze fest: Er betrachtet eingehend die Außenfassade, zählt Gassenfenster, beschreibt Vorhänge und geht die Gebäudelinie entlang. Seine Ergriffenheit ist kaum zu überlesen: „Fühlbare Beteiligung unseres ganzen Vorlebens an dem augenblicklichen Eindruck.“3
Während ihres Aufenthalts besuchten beide das Goethehaus beinahe täglich. Nur einmal berichten die Tagebücher hingegen vom Schillerhaus. Kafka resümiert, es sei als Schriftstellerwohnung mit „Wartezimmer, Empfangszimmer, Schreibzimmer, Schlafalkoven“4 gut angelegt. Das Hauptinteresse der beiden liegt aber auf der im Arbeitszimmer präsentierten Schreibszene – und damit auf dem konkreten Umfeld des literarischen Schaffens. Deutlich tritt für Kafka und Brod hervor, dass es sich um inszenierte, künstlich konservierte Räume handelt. Kafka stört sich an „[n]icht mehr menschliche[n] Haarlocken“.5 Brod berichtet vom entschuldigenden Ton der Museumsführerin, dass man aus den Dingen „so viel Wesen macht“.6
Auch im Bericht über das Goethehaus interessieren sich die Schriftsteller für das Schreibumfeld des Dichters. Nicht ohne Empörung stellen Kafka und Brod fest, dass das Arbeitszimmer zu dunkel sei. Gleichwohl, so räumen sie ein, dürfte die den Raum verdunkelnde Buche zu Goethes Lebzeiten niedriger gewesen sein. Doch Kafkas Ergriffenheit beim Anblick der Außenfassade des Goethehauses, das quasi „Auratische“, scheint in den Innenräumen verflogen. So schreibt er vom „[t]raurige[n] an tote Großväter erinnernde[n] Anblick“.7 Brod fragt sich in seinen Reisetagebuch darüber hinaus, warum Goethes Klosett nicht gezeigt werde, und hebt die Vielzahl an Feuerlöschern hervor.
In Kafkas Aufzeichnungen findet sich dafür noch eine ganz andere Erinnerung: die Begegnung mit Margarethe Kirchner. Kafka war schockverliebt in die Tochter des Hausmeisters. Sie war der eigentliche Grund für die quasi täglichen Besuche im Goethehaus und ermöglichte beiden, die Räume abseits der Öffnungszeiten zu besuchen.

Vergebliche Suche nach Goethe
In den Aufzeichnungen tauchen immer wieder Begriffe des Familiären auf: Kafka schreibt von Großvätern. Brod meint, wenn Kafka über Goethe spreche, wirke es, als „spreche ein Kind von seinem Ahnherrn“.8 Auch in seinem Roman Zauberreich der Liebe schreibt Brod, das Goethehaus außerhalb der Öffnungszeiten besuchen zu können, erzeuge das Gefühl, zur Familie Goethes zu gehören.
Jedoch ist bei Kafka die Rede von „toten Großvätern“, was darauf hindeutet, dass die gesuchte Nähe zu Goethe bei ihm unerfüllt bleibt. Das Tote, Konservierte der Dichterhäuser bewegt Kafka nicht. Ähnliches gilt für Brod, der mit der Frage nach Goethes Klosett das „Echte“ und Alltägliche nicht findet. Doch anders als Kafka, der sich ernüchtert und zunehmend abgelenkt zeigt, ist Brod keineswegs enttäuscht: Die Anlage der Wohnräume Goethes sei „ganz im Charakter seiner Person, wie ich ihn sehe“.9 Über Goethes Wirken in Weimar resümiert er: „Wie viele seiner Werke stehen nicht in seinen ‚Gesammelten Werken‘. Er hat diese Pärke angelegt, die Bibliothek, das Theater.“10
In Weimar waren Kafka und Brod also zu Gast bei toten Großvätern in einem Wechselspiel von Nähe und Distanz: Die Schreibszenen und Wohnräume standen in Relation zu ihrer jeweils eigenen schriftstellerischen Praxis; die konservierende museale Inszenierung nahm jedoch ein Stück der intimen Verwandtschaft. Trotzdem: ihre Bewunderung für Goethe wurde durch den Besuch keineswegs geschmälert.
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