In ihrer Rede zum Jahresempfang am 18. Januar 2024 stellt Ulrike Lorenz das Programm für das kommende Jahr vor und appeliert angesichts anhaltender Krisen auf der ganzen Welt und mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen im Jahr 2024 an die Vernunft.
Mensch-Sein, Freiheit, Verantwortung
Es gilt das gesprochene Wort
Liebe Frau Wajsbrot, vielen Dank für Ihre wunderbaren siebenfältigen Reflexionsschleifen um Weimar und die Welt aus der Außenperspektive, lieber Herr Hoff, sehr geehrte Stiftungsräte und Gremienmitglieder, liebe Freundinnen und Freunde der Klassik Stiftung Weimar, Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren,
Lassen Sie mich anfangen ganz bei uns an diesem Ort und in diesem Jahr. Es wird ein besonderes Jahr. Ein Jahr der Superlative für die Demokratie, ein Jahr der Freiheit der Wahl, ein Jahr der Prüfung für unsere Gesellschaft und der Sorge darum auch. Die Klassik Stiftung Weimar hat Sie in diesen symbolhaltigen Denkraum der Besonnenheit zusammengerufen, um mit Ihnen in Zuversicht in dieses Jahr einzusteigen und uns dabei einiger historischer Horizonte zu versichern, die Weimar nahelegt. Gleich ist Gelegenheit miteinander zu reden, „wer redet ist nicht tot …“. Quicklebendig wie wir hier und heute in unserer mitmenschlichen Grundverfassung nun einmal sind, bleiben wir auch 2024 frei zu entscheiden, wie wir leben und zusammenleben wollen. Ich spreche vom Risiko der Freiheit, in dem unser Mensch-Sein, die urmenschliche Kraft zu unzeitgemäßer Besinnung und zugleich zum verantwortungsvollen Handeln wurzeln.
Was wird 2024 der Fall sein – in der Welt und in der Klassik Stiftung Weimar? Die Hälfte der Erdbevölkerung ist in diesem Jahr aufgerufen, Parlamente, Präsidenten und Regierungen zu wählen. Ganze Gesellschaften entscheiden über die lebensprägende Politik ihrer Länder in den nächsten Jahren. „Noch nie zuvor haben so viele Menschen eine Vorstellung ihrer Zukunft auf dem Wahlzettel dokumentieren können.“1 So wird 2024 zum vielleicht wichtigsten Jahr für die Demokratie.
Die weltweit größte transnationale Wahl findet in Europa statt. Nach Siegen der Rechtspopulisten in Italien wie den Niederlanden und bei anhaltenden Einwanderungsdebatten muss diese Abstimmung als Rechts-Test auf europäischer Ebene gelten. Wahlen in Scheindemokratien (Nordkorea), Scheinwahlen in Diktaturen (Russland) und Wahlen in den bevölkerungsreichsten Demokratien Südostasiens (Indien) werden autoritäre Tendenzen bestärken. Im brexit-geschüttelten Großbritannien liegt hingegen die oppositionelle Labour-Partei in Führung, in Mexiko könnte erstmals eine Frau Präsidentin werden, im Iran findet die erste Parlamentswahl nach den niedergeschlagenen Massenprotesten statt. Am Ende des Jahres kann die Präsidentschaftswahl in den USA zum Kipppunkt für die älteste Demokratie der Welt und zu einem Schicksalsmoment für Europa werden, das seine Verteidigung fortan selbst in die Hand nehmen müsste.
Deutschland stimmt 2024 über Kommunalparlamente und Oberbürgermeister in acht Bundesländern ab. Thüringen, Sachsen, Brandenburg wählen im September neue Landtage. In Umfragen liegt die rechtspopulistische, in Teilen rechtsextreme AfD mit zirka 30 Prozent vorn. Keine demokratische Partei will mit ihr koalieren. Minderheitsregierungen sind wahrscheinlich; Thüringen macht vor, dass das viel Arbeit und Streit bedeutet, doch funktionieren kann und nicht ehrenrührig ist. Die demokratische Wahl eines Ministerpräsidenten mit gegendemokratischen Ambitionen ist denkbar, aber (noch) unwahrscheinlich. Dies müsste als größte Erschütterung der deutschen Politik seit Gründung der Bundesrepublik gelten.
Viele Menschen – bereits bestürzt über die sich aufstapelnden Krisenerfahrungen der letzten Jahre – bewegt jetzt ernste Sorge um Qualität und Stabilität unserer liberalen Demokratie. Der soziale Zusammenhalt scheint gefährdet, weil zunehmende Vielfalt und gelebte Freiheit auch wachsende Widersprüche und Zentrifugalkräfte bedeuten. Rahmenbedingungen und Denkhorizonte unserer Lebenswirklichkeit stehen im Zeitalter des Anthropozän auf dem Prüfstand. Überraschend oder auch nicht, erhöhen die derzeitige Emotionalisierung und Moralisierung des öffentlichen Raums einen fast vergessenen ideologischen Druck auf Institutionen und Menschen. Multiple Verunsicherungen stärken Sehnsüchte nach Orientierung und Ordnung oder führen ins Verstummen und Schweigen. Die „stille Mitte“ aber ist es gerade, die sich jetzt – so kürzlich Carsten Schneider, Ostbeauftragter der Bundesregierung – „erheben müsse“.2
So beginnt sich der Begriff Zeitenwende, den Bundeskanzler Olaf Scholz kurz nach dem russischen Eroberungsangriff auf die Ukraine 2022 vielleicht etwas voreilig prägte, mehr und mehr mit Bedeutung zu füllen. Wir begreifen unsere Gegenwart als eine historische Situation, die prinzipiell offen ist und zu Entscheidungen drängt. Damit sind wir als Einzelwesen direkt angesprochen in unserem Vermögen, frei zu handeln – mit allen Risiken und der Chance, uns dabei unserer eingeborenen Vernunft zu bedienen. Und genau dies führt mitten ins Hochspannungsfeld des Mensch-Seins in der Moderne, das wir im Moment als prekär erleben: nämlich zugleich Individuen und Menschheit zu sein.
In prekären Lebenslagen, sagt Immanuel Kant, gibt es die Pflicht zur Zuversicht. – Mitten in seiner eigenen Zeitenwende, die uns die Fallhöhe des Begriffs klar macht – also zwischen dem Aufbruch der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und französischen Revolution einerseits und dem Zurück zur alten Ordnung nach dem Europakrieg Napoleons andererseits – ruft der Königsberger Philosoph 1795 zum Ewigen Frieden. Seine radikale Hoffnung gewinnt heute wieder an Leuchtkraft. Sie ist nur zu denken im erhellenden Kurzschluss von Konkretem und Absolutem. Kant geht einerseits vom Menschen aus, so wie er eben ist: mit seinen Eigeninteressen und dem unergründlichen Willen zur Selbstbehauptung. Deshalb kann es keinen ewigen Frieden in einem Weltstaat geben, sondern nur Annäherungen in föderativen Staatenverbünden. Doch damit dies Menschenmögliche realisierbar wird, muss Kant einen absoluten Anspruch setzen: die Universalität der Vernunft. Die Vernunft ist das Organ, mit dessen Hilfe der Einzelne sich als Glied nicht nur einer Gemeinschaft oder eines Staats, sondern der Menschheit begreifen kann. Die Vernunft macht den Menschen zum Weltbürger, sie ist der Weg vom Ich zum Wir.
Um diesen richtigen Begriff der Vernunft zu gewinnen, übt Kant zuvor radikale Kritik an ihm. Er befreit das Denken aus dem mechanistischen Zugriff des despotisch werdenden Aufklärungsrationalismus und öffnet die Vernunft hin zum Menschen. „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“.3 Omri Boehm schlägt vor, das Wort Glauben in diesem Satz probeweise durch Denken zu ersetzen – und zwar im stärksten Sinne: „die Wahrheit jenseits von Faktenwissen“ erkennen.4 Jene ur-menschliche Fähigkeit also, die Kant selbst in den Mittelpunkt seiner Definition von Aufklärung stellt: selber denken, frei, ohne die Hilfe fremder Autoritäten. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe den Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“5 Vernunft und Mündigkeit sind Schlüssel zur Gattung Mensch. Nur diese Spezies wächst mit vernunftbegabtem Denken über den Naturzustand hinaus. Nur der Mensch ist in der Lage, sich selbst und die Welt verstehend zu durchdringen und schöpferisch zu übersteigen. Hier wurzelt seine singuläre Fähigkeit zu Überzeitlichkeit und Hoffnung, zu Religion, Kunst und den anderen Systemen, aus denen seine Existenz Sinn empfängt – schlussendlich auch zu Krieg oder Frieden.
Mündigkeit im Selberdenken führt zu verantwortlichem Handeln. Der Mensch ist verantwortlich für die Welt, in der er lebt. Für dieses gedankliche Manöver muss Kant allerdings darauf bestehen, dass der Gattungsbegriff Menschheit ganz abstrakt bleibt, frei von biologischen, historischen, soziologischen Tatsachen – eine reine metaphysische Idee. Das wird zum theoretischen Fundament für ethische Praxis und moralische Normen. Was Menschen menschlich macht und ihnen unantastbare Würde verleiht, ist keine natürliche Eigenschaft, sondern ihre absolute Freiheit, sich moralische Gesetze zu geben und die Pflichte aufzuerlegen, ihnen zu folgen. Menschen sind frei, weil ihr Tun nicht nur durch Ursachen, sondern auch durch Gründe und Rechtfertigungen bestimmt ist. Vernunft und Freiheit, Moral und Verantwortlichkeit sind im Mensch-Sein untrennbar miteinander verkoppelt.
Keine Frage, es gab und gibt jede Menge Kritik an Kants metaphysischer Menschheitsidee. Jeder neue Krieg ist eine fundamentale Infragestellung. – Der zum Abnutzungskrieg entgleiste Angriff Russlands auf die Ukraine, der tragische Verteidigungskrieg des israelischen Staats gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas erteilen der philosophischen Abstraktion des Menschen eine Lektion, nicht aber der Vernunft. – Kant war kein Wolkenkuckucksheimer. Sein pragmatisches Herangehen an reale Menschen in ihrer Fähigkeit zu Vernunft und Verantwortung berechtigt zu Zuversicht. Die geschichtliche Entwicklung hat drei Hypothesen Kants bestätigt, dass nämlich 1. Vernunft eher zu demokratischen Verfassungen führt als in autoritäre Strukturen, 2. der Welthandel, wenn schon nicht zivilisierend, so doch interessengeleitet befriedend wirkt, und 3. eine kritische Öffentlichkeit als beobachtendes Korrektiv tatsächlich funktionieren kann. Und darüber hinaus hat die Geschichte bis dato erwiesen, dass echte Demokratien in der Regel keine Kriege gegeneinander führen. Allerdings können die Idee der Nation und vor allem die Eigendynamiken des Nationalismus – auch sie Produkte des demokratischen Zeitalters – ungeahnte Massen mobil machen: eine Logik, die immer wieder zu Gewalt und in Kriege führt. Gerade deswegen scheint wiederum das Absolute unverzichtbar: die bewusste Entscheidung für einen radikalen Universalismus des Humanen, für den Omri Boehm angesichts der aussichtslosen Lage in Nahost als ultima ratio plädiert.
Meine Damen und Herren, der Mensch ist das, wozu er sich entscheidet. Was an ihm dran ist, stellt sich im Augenblick der Entscheidung heraus. Der Philosoph Helmuth Plessner überdenkt 1931 – unmittelbar vor der Zeitenwende des Nationalsozialismus, mitten in den bürgerkriegsähnlichen letzten Tagen der Weimarer Republik, in denen die Vernunft des Ausgleichs zerrieben wurde – die „Unergründlichkeit“ des Menschen. Der bleibt unergründlich, weil er seine Gründe immer noch vor sich hat. Der Mensch ist das, wozu er sich entschieden haben wird. So entdeckt er sich aus seiner wesensmäßigen Unbestimmtheit heraus „als offene Frage“.6
Auch das vor uns liegende Wahljahr ist eine offene Frage – bis zum Augenblick der Entscheidung. Institutionen sind nicht klüger als die Menschen, die sie machen, sondern ebenso betroffen von einer offenen Situation. Auch die Klassik Stiftung Weimar bleibt auf Politik angewiesen, ohne Politik zu sein. Wir partizipieren an der verfassungsmäßig garantierten Wissenschafts- und Kunstfreiheit unserer liberal-demokratischen Gesellschaft, die uns von politischen Repräsentations- und Offenbarungspflichten entbunden hat. Diese Freiheit nutzen wir, mit unseren Kompetenzen und Kernthemen Denkanstöße und Praxisbeispiele so zu vermitteln, dass sich möglichst viele Menschen mit ihren grundverschiedenen Erfahrungen und Erwartungen zum vernunftbegabten Selberdenken und Handeln verführen lassen.
2024 macht die Klassik Stiftung Weimar die ambivalente Moderne im 20. Jahrhundert zum Leitthema. Weimar, wo der fragwürdige Anspruch, die Welt durch Bildung, Kunst und Literatur zu einem besseren Ort zu machen, zum Mythos wurde, ist heute für viele das Symbol deutscher Geschichte in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit – Cécile Wajsbrot sprach darüber. Nirgends und nie lagen Aufbruch und Katastrophe, Scheitern und Neustart drastischer beieinander als in der Abfolge von Kaiserreich, Weimarer Republik, dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus und der Neugründung zweier Deutschländer – gespiegelt im Mikrokosmos Weimar. Die Ambivalenzen der Moderne zeigten sich hier nicht nur in dichter Nachbarschaft, sondern auch in schier unauflöslicher innerer Verflechtung. Experimente wurden zu irreparablen Brüchen, Versprechen zu Verbrechen. Auf engstem Raum – quasi fußläufig – treffen Widersprüche, Brutalitäten, Kleingeistereien, Höhenflüge und Niederlagen der Deutschen in Geschichte und Gegenwart besonders prägnant zusammen. Darauf spielt unser Jahrestitel an. „Aufbruch“ – dieses so schön zwiespältige deutsche Wort als Oxymoron gedacht und gestaltet: Auf – blitzartiger Trennstrich – Bruch.
Wir beleuchten 2024 den Kampf um das Bauhaus und den Kampf um die Demokratie durch exemplarische Ereignisse, Persönlichkeiten und Kunstwerke. Wir fragen in Ausstellungen, Debatten, Werkstätten und in unserem Jahresmagazin nach der Verbindung von Kultur und Politik, Kunst und Macht, die im 20. Jahrhundert toxisch wurde. Ein Thema, das gerade jetzt – in der allgegenwärtigen Politisierung von Kunst und Kultur wie auch einer alles durchdringenden Kulturalisierung von Politik und Gesellschaft – wieder hochbrisant wird.
Den Anstoß zum Themenjahr liefert uns eine historische Wahl. Am 10. Februar 1924 führte sie mit dem Sieg des Thüringer Ordnungsbunds zur ersten Regierungsbildung mit nationalsozialistischer Unterstützung – ein Wendepunkt für die Weimarer Republik. Die erste parlamentarische Demokratie auf deutschem Boden hatte sich 1919 nicht ohne Grund in Weimar konstituiert. Nach dem Ersten Weltkrieg wollten Reichpräsident Friedrich Ebert und eine demokratische Mehrheit – unter Anrufung des Goethe-Geists – ein besseres Deutschland gestalten. Diese Hoffnung war in Thüringen 1924 schon fast am Ende. Die reaktionär-konservative Regierungsmehrheit halbierte die staatliche Finanzierung des demokratischen Schulexperiments Bauhaus und schnitt ihm damit die Lebensader ab. In direkter Konsequenz wechselte das Bauhaus 1925 auf SPD-Einladung nach Dessau, wo es seine Blütezeit gestalten konnte – mit großen Auswirkungen auf das gesamte Jahrhundert und die ganze Welt.
Wir nehmen aus diesem für Weimar bitteren Anlass erstmals ein unbequemes Thema im Format unserer zentralen Jahresausstellung mit internationalem Anspruch unter die Lupe: Bauhaus und Nationalsozialismus. Dieser Zusammenhang galt bis weit in die 1990er Jahre als unvereinbarer Gegensatz. Die politische Vertreibung aus Weimar begründete den bis heute lebendigen Mythos der „guten“ antifaschistischen Institution. Die wissenschaftlich fundierte, differenzierende und mutige Aufarbeitung des internationalen Kuratorenteams mit Ulrike Besten und Anke Blümm an der Klassik Stiftung Weimar sowie Patrick Rössler aus Erfurt und Elisabeth Otto in Buffalo zeigt jedoch, dass sich die moderne Design- und Architekturschule dem verbrecherischen System nicht einfach entgegensetzen lässt. Eine Mehrheit der Bauhäusler blieb nach 1933 in Deutschlands Diktatur. Studierende, Meister und Künstlerinnen finden sich nicht nur unter den Opfern, sondern sie waren auch Profiteure des NS-Regimes: beteiligten sich an Propaganda-Ausstellungen, präsentierten ihre Werke auf Designmessen oder entwarfen Filmplakate, Möbel, Haushaltswaren. – Manche schufen Hitlerbüsten.
Im Kampf um das Bauhaus werden die gefährlichen Rückzugsgefechte eines kulturell enteigneten Bildungsbürgertums wie auch der zerrüttende Widerspruch zwischen den einerseits künstlerisch produktiven, andererseits politisch destruktiven Dynamiken der Moderne erkennbar. Zugleich begreifen wir, dass innovative künstlerische Haltungen allein nicht gegen die Verführbarkeit durch totalitäre Regime schützen. Also gilt es, die Rolle der Kunst in liberalen und weltoffenen Gesellschaften immer wieder neu zu befragen und auszuhandeln. Die Ausstellung Bauhaus und Nationalsozialismus ist in drei Kapiteln und drei Museen zu besichtigen: Bauhaus-Museum, Museum Neues Weimar und Schiller-Museum. Sie ist das zentrale Ereignis im Themenjahr „Auf/Bruch“ und wird am 8. Mai im Schulterschluss mit der Stiftung Gedenkstätte Buchenwald und deren neuem Museum Zwangsarbeit im Quartier der Moderne eröffnet.
Darüber hinaus greifen wir 2024 in Debatten und Symposien die beiden deutschen Staatsgründungen vor 75 Jahren auf – alternative Versuche eines Neustarts nach dem Zivilisationsbruch im Zeichen des Kalten Kriegs. Den 200. Geburtstag Goethes im selben Jahr 1949 feierten Frankfurt/Main und Weimar unisono mit dem Auftritt des Exilanten Thomas Mann in West wie Ost. Diesseits und jenseits der Stacheldrahtnaht durch Deutschland beriefen sich die kompromittierten Kultureliten auf Goethe – als wenn nichts gewesen wäre. Nur der Philosoph Karl Jaspers und der aus dem Exil schockiert zurückkehrende Germanist Richard Alewyn erhoben hörbar Einwände. Die Frage, ob die zivilisatorische Katastrophe des Nationalsozialismus auch den Klassikern oder nur ihrer falschen Vereinnahmung anzulasten sei, wurde in beiden Deutschländern zugunsten der Klassiker entschieden. – In der DDR wusste die sozialistische Einheitspartei den territorialen Standortvorteil zu nutzen und gründete 1953 die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar. Unser Blick richtet sich 2024 auf Aufbruch, Kontinuitäten und Bruchlinien deutscher Kulturpolitik im Umgang mit dem Weimarer ‚Erbe’.
Drei weitere große Ereignisse flankieren das Themenjahr: Am Vorabend des 200. Geburtstags von Großherzogin Sophie – Gründerin des ältesten Literaturarchivs der Welt – feiern wir am 7. April im Goethe- und Schiller-Archiv gemeinsam mit der ganzen Stadt nach einem Festgottesdienst in der Herderkirche die geistesgegenwärtige Archivausstellung „Sophie.Macht.Literatur“. Am 2. September begehen wir den 20. Jahrestag des Brandtraumas der Herzogin Anna Amalia Bibliothek mit „Future Memory“ – einem blitzgescheiten Zeitzeugenprojekt, das in die Zukunft zielt, weil es Ihre Erinnerungen an das Ereignis 2004 direkt in die Medien-Sammlung der Bibliothek schickt und damit für künftige Generationen „rettet“. Und schließlich eröffnen wir am 21. November eine zweite großartige Forschungsausstellung unserer Direktion Museen: „Caspar David Friedrich, Goethe und die Romantik in Weimar“. Goethe als Romantiker, Friedrich als radikal-politischer Künstler und Weimar als Aushandlungsort des Kunstfortschritts um 1800 – wir lesen den Klassik-Mythos gegen den Strich und werfen die Stärken unserer Graphiksammlung und Restaurierungsexpertisen in die Waagschale des nationalen Friedrich-Jahrs. Diese letzte Kunstausstellung im Schiller-Museum leitet auf das Schönste hinüber ins Goethe-Jahr 2025 und der zentralen Faust-Ausstellung bei Schiller im Postmoderne-Neubau der späten DDR. Damit kehren Literaturausstellungen zurück in die Stiftung. Wenn das Goethehaus 2026 wegen Sanierung schließen muss, dann wird dieser Verlust nicht nur von der Dauerausstellung des Goethe-Nationalmuseums wettgemacht, sondern auch von Literaturthemen im Schiller-Museum und dem sich 2026/27 sukzessive öffnenden Ostflügel des Residenzschlosses – der Ort, an dem Kunst und Macht eine glückhafte Liaison – für eine kurze Hoch-Zeit – eingingen und die Erfindung Weimars begann. Soweit mein Blick in die Zukunft.
Lassen Sie mich mit Goethe enden. Mit Goethes Mut zum Selberdenken und Selbstsein, der ihn noch für jeden Bezugsmissbrauch langfristig unbrauchbar macht. Er verkörperte wie kaum ein zweiter Zeitgenosse Kants Aufklärungsbegriff, misstraute zeitlebens der Stimme der Mehrheit und verstand es – trotz inniger Bindung an das gesellschaftliche und kulturelle Leben seiner Epoche – ein Einzelner zu bleiben. Der eigensinnige Unzeitgemäße vom Frauenplan war so frei, beobachtend, prüfend, reflektierend einen Mindestabstand zu seiner Epoche zu pflegen – vom Revolutionselan seiner Weggefährten ebenso wie vom patriotischen Pathos der antinapoleonischen Befreiungskriege, denen er seinen Sohn verweigerte. Für Goethe war jeder getötete Aristokrat, jeder getötete Demokrat ein Toter zu viel. Eingespannt ins Ordnungssystem höfischer und bürokratischer Interessen, reformbeflissen, der „Forderung des Tages“7 ergeben, nahm Goethe nur so viel Welt in sich auf, wie er verarbeiten konnte. Auch wenn er an vielem Anteil nehmen musste, das er sich lieber erspart hätte – bestimmte er nach Kräften den Wirkungskreis seines Lebens selbst.8 Goethe agierte in der Sphäre des Bürgerlichen: des Pensums und der Routinen, des Ausgleichs, der Skepsis gegen das Extreme und der selbstgemachten Erfahrungen. Die zufälligen Orte der trostlosen Misere der Revolutionskriege, die er 1793 leibhaftig erlebte, hat Goethe als „Symbol der gleichzeitigen Weltgeschichte“ verstanden – ohne „die mindeste Ahnung“ davon zu haben, „was denn Besseres, ja nur Anderes daraus erfolgen solle“.9
Gerade weil der Mensch kein Naturwesen ist und in seinen Entscheidungen unergründlich bleibt, verheißt ihm selbstbestimmte Lebensführung persönliche Freiheit. „Nicht das macht frei“, so Goethe im Alter, „daß wir nichts über uns anerkennen wollen, sondern eben, daß wir etwas verehren, das über uns ist. Denn indem wir es verehren, heben wir uns zu ihm hinauf und legen durch unsere Anerkennung an den Tag, daß wir selber das Höhere in uns tragen und wert sind, seinesgleichen zu sein.“10 Da haben wir sie wieder, die moderne Spannung zwischen Alltag und Absolutem, zwischen konkretem Mensch-Sein hienieden und abstrakter Menschheit, die ein Höheres verkörpert, zu dem wir uns bekennen, wenn wir uns unserer Vernunft bedienen.
„Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet.“11 Mein Lieblingsphilosoph Odo Marquard mahnt „Mut zur Bürgerlichkeit“ an. Verteidigen wir 2024 die liberale Bürgerwelt, die den Ausgleich bevorzugt: das Geregelte gegenüber dem Erhabenen, Ironie statt Extremismus, die Geschäftsordnung gegenüber dem Charisma, das Individuum statt der säkularen Heilsgemeinschaft.12 Sorgen wir dafür, dass Aufklärung nicht im emanzipatorischen Radikalismus kulminiert, sondern in der Skepsis.13 Dazu brauchen wir die eigene, leibhaftige Erfahrung und jede Menge fremder Geschichten, die gegen Uniformierung Widerstand leisten und unsere Fähigkeiten trainieren, Unterschiede zu erkennen. Romane, Museen, Archive, Philosophie, Theater und Kunst können helfen, unsere Denkhorizonte und Handlungsräume zu weiten, Problemlösungen komplexer und lebenstauglicher, unsere Urteilskraft menschlicher zu machen. Sie ermutigen zur Entlastung vom Absoluten, Ganzheitlichen und Endgültigen, für das der Mensch nun einmal nicht taugt.
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