© Henry Sowinski
Jahresempfang 2024

Die Rede von Stiftungspräsidentin Ulrike Lorenz

von
/

In ihrer Rede zum Jahres­empfang am 18. Januar 2024 stellt Ulrike Lorenz das Programm für das kommende Jahr vor und appeliert angesichts anhaltender Krisen auf der ganzen Welt und mit Blick auf die bevor­stehenden Wahlen im Jahr 2024 an die Vernunft.

Mensch-Sein, Freiheit, Verantwortung

Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Frau Wajsbrot, vielen Dank für Ihre wunderbaren sieben­fältigen Reflexions­schleifen um Weimar und die Welt aus der Außen­perspektive, lieber Herr Hoff, sehr geehrte Stiftungsräte und Gremien­mitglieder, liebe Freundinnen und Freunde der Klassik Stiftung Weimar, Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren,

Lassen Sie mich anfangen ganz bei uns an diesem Ort und in diesem Jahr. Es wird ein besonderes Jahr. Ein Jahr der Superlative für die Demokratie, ein Jahr der Freiheit der Wahl, ein Jahr der Prüfung für unsere Gesellschaft und der Sorge darum auch. Die Klassik Stiftung Weimar hat Sie in diesen symbolhaltigen Denkraum der Besonnenheit zusammengerufen, um mit Ihnen in Zuversicht in dieses Jahr einzusteigen und uns dabei einiger historischer Horizonte zu versichern, die Weimar nahelegt. Gleich ist Gelegenheit miteinander zu reden, „wer redet ist nicht tot …“. Quick­lebendig wie wir hier und heute in unserer mitmenschlichen Grund­verfassung nun einmal sind, bleiben wir auch 2024 frei zu entscheiden, wie wir leben und zusammenleben wollen. Ich spreche vom Risiko der Freiheit, in dem unser Mensch-Sein, die urmenschliche Kraft zu unzeitgemäßer Besinnung und zugleich zum verant­wortungsvollen Handeln wurzeln.

Was wird 2024 der Fall sein – in der Welt und in der Klassik Stiftung Weimar? Die Hälfte der Erdbevölkerung ist in diesem Jahr aufgerufen, Parlamente, Präsidenten und Regierungen zu wählen. Ganze Gesellschaften entscheiden über die lebens­prägende Politik ihrer Länder in den nächsten Jahren. „Noch nie zuvor haben so viele Menschen eine Vorstellung ihrer Zukunft auf dem Wahlzettel dokumentieren können.“1 So wird 2024 zum vielleicht wichtigsten Jahr für die Demokratie.

Die weltweit größte trans­nationale Wahl findet in Europa statt. Nach Siegen der Rechts­populisten in Italien wie den Niederlanden und bei anhaltenden Einwanderungs­debatten muss diese Abstimmung als Rechts-Test auf europäischer Ebene gelten. Wahlen in Schein­demokratien (Nordkorea), Scheinwahlen in Diktaturen (Russland) und Wahlen in den bevölkerungs­reichsten Demokratien Südostasiens (Indien) werden autoritäre Tendenzen bestärken. Im brexit-geschüttelten Großbritannien liegt hingegen die oppositionelle Labour-Partei in Führung, in Mexiko könnte erstmals eine Frau Präsidentin werden, im Iran findet die erste Parlamentswahl nach den nieder­geschlagenen Massen­protesten statt. Am Ende des Jahres kann die Präsidentschafts­wahl in den USA zum Kipp­punkt für die älteste Demokratie der Welt und zu einem Schicksals­moment für Europa werden, das seine Verteidigung fortan selbst in die Hand nehmen müsste.

Deutschland stimmt 2024 über Kommunal­parlamente und Oberbürger­meister in acht Bundes­ländern ab. Thüringen, Sachsen, Brandenburg wählen im September neue Landtage. In Umfragen liegt die rechts­populistische, in Teilen rechtsextreme AfD mit zirka 30 Prozent vorn. Keine demokratische Partei will mit ihr koalieren. Minderheits­regierungen sind wahrscheinlich; Thüringen macht vor, dass das viel Arbeit und Streit bedeutet, doch funktionieren kann und nicht ehren­rührig ist. Die demokratische Wahl eines Minister­präsidenten mit gegen­demokratischen Ambitionen ist denkbar, aber (noch) unwahrscheinlich. Dies müsste als größte Erschütterung der deutschen Politik seit Gründung der Bundes­republik gelten.

Viele Menschen – bereits bestürzt über die sich aufstapelnden Krisen­erfahrungen der letzten Jahre – bewegt jetzt ernste Sorge um Qualität und Stabilität unserer liberalen Demokratie. Der soziale Zusammenhalt scheint gefährdet, weil zunehmende Vielfalt und gelebte Freiheit auch wachsende Widersprüche und Zentrifugal­kräfte bedeuten. Rahmen­bedingungen und Denk­horizonte unserer Lebens­wirklichkeit stehen im Zeitalter des Anthropozän auf dem Prüfstand. Überraschend oder auch nicht, erhöhen die derzeitige Emotiona­lisierung und Moralisierung des öffentlichen Raums einen fast vergessenen ideologischen Druck auf Institutionen und Menschen. Multiple Verunsicherungen stärken Sehnsüchte nach Orientierung und Ordnung oder führen ins Verstummen und Schweigen. Die „stille Mitte“ aber ist es gerade, die sich jetzt – so kürzlich Carsten Schneider, Ost­beauftragter der Bundesregierung – „erheben müsse“.2

So beginnt sich der Begriff Zeiten­wende, den Bundes­kanzler Olaf Scholz kurz nach dem russischen Eroberungs­angriff auf die Ukraine 2022 vielleicht etwas voreilig prägte, mehr und mehr mit Bedeutung zu füllen. Wir begreifen unsere Gegenwart als eine historische Situation, die prinzipiell offen ist und zu Entscheidungen drängt. Damit sind wir als Einzel­wesen direkt angesprochen in unserem Vermögen, frei zu handeln – mit allen Risiken und der Chance, uns dabei unserer eingeborenen Vernunft zu bedienen. Und genau dies führt mitten ins Hoch­spannungs­feld des Mensch-Seins in der Moderne, das wir im Moment als prekär erleben: nämlich zugleich Individuen und Menschheit zu sein.

In prekären Lebens­lagen, sagt Immanuel Kant, gibt es die Pflicht zur Zuversicht. – Mitten in seiner eigenen Zeiten­wende, die uns die Fallhöhe des Begriffs klar macht – also zwischen dem Aufbruch der amerikanischen Unabhängig­keits­erklärung und französischen Revolution einerseits und dem Zurück zur alten Ordnung nach dem Europa­krieg Napoleons andererseits – ruft der Königsberger Philosoph 1795 zum Ewigen Frieden. Seine radikale Hoffnung gewinnt heute wieder an Leuchtkraft. Sie ist nur zu denken im erhellenden Kurz­schluss von Konkretem und Absolutem. Kant geht einerseits vom Menschen aus, so wie er eben ist: mit seinen Eigen­interessen und dem uner­gründlichen Willen zur Selbst­behauptung. Deshalb kann es keinen ewigen Frieden in einem Weltstaat geben, sondern nur Annäherungen in föderativen Staatenverbünden. Doch damit dies Menschen­mögliche realisierbar wird, muss Kant einen absoluten Anspruch setzen: die Universalität der Vernunft. Die Vernunft ist das Organ, mit dessen Hilfe der Einzelne sich als Glied nicht nur einer Gemeinschaft oder eines Staats, sondern der Menschheit begreifen kann. Die Vernunft macht den Menschen zum Weltbürger, sie ist der Weg vom Ich zum Wir.

Um diesen richtigen Begriff der Vernunft zu gewinnen, übt Kant zuvor radikale Kritik an ihm. Er befreit das Denken aus dem mecha­nistischen Zugriff des despotisch werdenden Aufklärungs­rationalismus und öffnet die Vernunft hin zum Menschen. „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“.3 Omri Boehm schlägt vor, das Wort Glauben in diesem Satz probeweise durch Denken zu ersetzen – und zwar im stärksten Sinne: „die Wahrheit jenseits von Faktenwissen“ erkennen.4 Jene ur-menschliche Fähigkeit also, die Kant selbst in den Mittelpunkt seiner Definition von Aufklärung stellt: selber denken, frei, ohne die Hilfe fremder Autoritäten. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst­verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe den Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“5 Vernunft und Mündigkeit sind Schlüssel zur Gattung Mensch. Nur diese Spezies wächst mit vernunft­begabtem Denken über den Naturzustand hinaus. Nur der Mensch ist in der Lage, sich selbst und die Welt verstehend zu durchdringen und schöpferisch zu übersteigen. Hier wurzelt seine singuläre Fähigkeit zu Über­zeitlichkeit und Hoffnung, zu Religion, Kunst und den anderen Systemen, aus denen seine Existenz Sinn empfängt – schlussendlich auch zu Krieg oder Frieden.

Mündigkeit im Selberdenken führt zu verantwortlichem Handeln. Der Mensch ist verantwortlich für die Welt, in der er lebt. Für dieses gedankliche Manöver muss Kant allerdings darauf bestehen, dass der Gattungs­begriff Menschheit ganz abstrakt bleibt, frei von biologischen, historischen, soziologischen Tatsachen – eine reine metaphysische Idee. Das wird zum theoretischen Fundament für ethische Praxis und moralische Normen. Was Menschen menschlich macht und ihnen unantastbare Würde verleiht, ist keine natürliche Eigenschaft, sondern ihre absolute Freiheit, sich moralische Gesetze zu geben und die Pflichte aufzuerlegen, ihnen zu folgen. Menschen sind frei, weil ihr Tun nicht nur durch Ursachen, sondern auch durch Gründe und Recht­fertigungen bestimmt ist. Vernunft und Freiheit, Moral und Verant­wortlichkeit sind im Mensch-Sein untrennbar miteinander verkoppelt.

Keine Frage, es gab und gibt jede Menge Kritik an Kants meta­physischer Menschheits­idee. Jeder neue Krieg ist eine fundamentale Infragestellung. – Der zum Abnutzungs­krieg entgleiste Angriff Russlands auf die Ukraine, der tragische Ver­teidigungs­krieg des israelischen Staats gegen die palästinensische Terror­organisation Hamas erteilen der philosophischen Abstraktion des Menschen eine Lektion, nicht aber der Vernunft. – Kant war kein Wolken­kuckucks­heimer. Sein pragmatisches Herangehen an reale Menschen in ihrer Fähigkeit zu Vernunft und Verantwortung berechtigt zu Zuversicht. Die geschichtliche Entwicklung hat drei Hypothesen Kants bestätigt, dass nämlich 1. Vernunft eher zu demokratischen Verfassungen führt als in autoritäre Strukturen, 2. der Welthandel, wenn schon nicht zivilisierend, so doch interessen­geleitet befriedend wirkt, und 3. eine kritische Öffentlichkeit als beobachtendes Korrektiv tatsächlich funktionieren kann. Und darüber hinaus hat die Geschichte bis dato erwiesen, dass echte Demokratien in der Regel keine Kriege gegeneinander führen. Allerdings können die Idee der Nation und vor allem die Eigen­dynamiken des Nationalismus – auch sie Produkte des demokratischen Zeitalters – ungeahnte Massen mobil machen: eine Logik, die immer wieder zu Gewalt und in Kriege führt. Gerade deswegen scheint wiederum das Absolute unverzichtbar: die bewusste Entscheidung für einen radikalen Universalismus des Humanen, für den Omri Boehm angesichts der aussichtslosen Lage in Nahost als ultima ratio plädiert.

Meine Damen und Herren, der Mensch ist das, wozu er sich entscheidet. Was an ihm dran ist, stellt sich im Augenblick der Entscheidung heraus. Der Philosoph Helmuth Plessner überdenkt 1931 – unmittelbar vor der Zeiten­wende des National­sozialismus, mitten in den bürger­kriegs­ähnlichen letzten Tagen der Weimarer Republik, in denen die Vernunft des Ausgleichs zerrieben wurde – die „Unergründlichkeit“ des Menschen. Der bleibt unergründlich, weil er seine Gründe immer noch vor sich hat. Der Mensch ist das, wozu er sich entschieden haben wird. So entdeckt er sich aus seiner wesens­mäßigen Unbestimmtheit heraus „als offene Frage“.6

Auch das vor uns liegende Wahljahr ist eine offene Frage – bis zum Augenblick der Entscheidung. Institutionen sind nicht klüger als die Menschen, die sie machen, sondern ebenso betroffen von einer offenen Situation. Auch die Klassik Stiftung Weimar bleibt auf Politik angewiesen, ohne Politik zu sein. Wir partizipieren an der verfassungs­mäßig garantierten Wissenschafts- und Kunstfreiheit unserer liberal-demokratischen Gesellschaft, die uns von politischen Repräsentations- und Offenbarungs­pflichten entbunden hat. Diese Freiheit nutzen wir, mit unseren Kompetenzen und Kernthemen Denkanstöße und Praxis­beispiele so zu vermitteln, dass sich möglichst viele Menschen mit ihren grund­verschiedenen Erfahrungen und Erwartungen zum vernunft­begabten Selberdenken und Handeln verführen lassen.

2024 macht die Klassik Stiftung Weimar die ambivalente Moderne im 20. Jahrhundert zum Leit­thema. Weimar, wo der frag­würdige Anspruch, die Welt durch Bildung, Kunst und Literatur zu einem besseren Ort zu machen, zum Mythos wurde, ist heute für viele das Symbol deutscher Geschichte in ihrer ganzen Wider­sprüch­lich­keit – Cécile Wajsbrot sprach darüber. Nirgends und nie lagen Aufbruch und Katastrophe, Scheitern und Neustart drastischer beieinander als in der Abfolge von Kaiserreich, Weimarer Republik, dem Zivili­sations­bruch des National­sozialismus und der Neugründung zweier Deutschländer – gespiegelt im Mikrokosmos Weimar. Die Ambivalenzen der Moderne zeigten sich hier nicht nur in dichter Nachbarschaft, sondern auch in schier unauflöslicher innerer Verflechtung. Experimente wurden zu irreparablen Brüchen, Versprechen zu Verbrechen.  Auf engstem Raum – quasi fußläufig – treffen Widersprüche, Brutalitäten, Kleingeistereien, Höhenflüge und Niederlagen der Deutschen in Geschichte und Gegenwart besonders prägnant zusammen. Darauf spielt unser Jahrestitel an. „Aufbruch“ – dieses so schön zwiespältige deutsche Wort als Oxymoron gedacht und gestaltet: Auf – blitzartiger Trennstrich – Bruch.

Wir beleuchten 2024 den Kampf um das Bauhaus und den Kampf um die Demokratie durch exemplarische Ereignisse, Persönlich­keiten und Kunstwerke. Wir fragen in Ausstellungen, Debatten, Werkstätten und in unserem Jahres­magazin nach der Verbindung von Kultur und Politik, Kunst und Macht, die im 20. Jahrhundert toxisch wurde. Ein Thema, das gerade jetzt – in der all­gegen­­wärtigen Politisierung von Kunst und Kultur wie auch einer alles durchdringenden Kulturalisierung von Politik und Gesellschaft – wieder hochbrisant wird.

Den Anstoß zum Themenjahr liefert uns eine historische Wahl. Am 10. Februar 1924 führte sie mit dem Sieg des Thüringer Ordnungsbunds zur ersten Regierungsbildung mit nationalsozialistischer Unterstützung – ein Wendepunkt für die Weimarer Republik. Die erste parlamentarische Demokratie auf deutschem Boden hatte sich 1919 nicht ohne Grund in Weimar konstituiert. Nach dem Ersten Weltkrieg wollten Reichpräsident Friedrich Ebert und eine demokratische Mehrheit – unter Anrufung des Goethe-Geists – ein besseres Deutschland gestalten. Diese Hoffnung war in Thüringen 1924 schon fast am Ende. Die reaktionär-konservative Regierungs­mehrheit halbierte die staatliche Finanzierung des demokratischen Schul­experiments Bauhaus und schnitt ihm damit die Lebensader ab. In direkter Konsequenz wechselte das Bauhaus 1925 auf SPD-Einladung nach Dessau, wo es seine Blütezeit gestalten konnte – mit großen Auswirkungen auf das gesamte Jahrhundert und die ganze Welt.

Wir nehmen aus diesem für Weimar bitteren Anlass erstmals ein unbequemes Thema im Format unserer zentralen Jahres­ausstellung mit inter­nationalem Anspruch unter die Lupe: Bauhaus und Nationalsozialismus. Dieser Zusammenhang galt bis weit in die 1990er Jahre als unvereinbarer Gegensatz. Die politische Vertreibung aus Weimar begründete den bis heute lebendigen Mythos der „guten“ anti­faschistischen Institution. Die wissenschaftlich fundierte, differen­zierende und mutige Auf­arbeitung des internationalen Kuratoren­teams mit Ulrike Besten und Anke Blümm an der Klassik Stiftung Weimar sowie Patrick Rössler aus Erfurt und Elisabeth Otto in Buffalo zeigt jedoch, dass sich die moderne Design- und Architektur­schule dem ver­brecher­ischen System nicht einfach ent­gegen­setzen lässt. Eine Mehrheit der Bauhäusler blieb nach 1933 in Deutschlands Diktatur. Studierende, Meister und Künstlerinnen finden sich nicht nur unter den Opfern, sondern sie waren auch Profiteure des NS-Regimes: beteiligten sich an Propaganda-Ausstellungen, präsentierten ihre Werke auf Design­messen oder entwarfen Filmplakate, Möbel, Haushaltswaren. – Manche schufen Hitlerbüsten.

Im Kampf um das Bauhaus werden die gefährlichen Rückzugs­gefechte eines kulturell enteigneten Bildungs­bürgertums wie auch der zerrüttende Widerspruch zwischen den einerseits künstlerisch produktiven, andererseits politisch destruktiven Dynamiken der Moderne erkennbar. Zugleich begreifen wir, dass innovative künstlerische Haltungen allein nicht gegen die Verführbarkeit durch totalitäre Regime schützen. Also gilt es, die Rolle der Kunst in liberalen und weltoffenen Gesellschaften immer wieder neu zu befragen und auszuhandeln. Die Ausstellung Bauhaus und Nationalsozialismus ist in drei Kapiteln und drei Museen zu besichtigen: Bauhaus-Museum, Museum Neues Weimar und Schiller-Museum. Sie ist das zentrale Ereignis im Themenjahr „Auf/Bruch“ und wird am 8. Mai im Schulter­schluss mit der Stiftung Gedenkstätte Buchenwald und deren neuem Museum Zwangsarbeit im Quartier der Moderne eröffnet.

Darüber hinaus greifen wir 2024 in Debatten und Symposien die beiden deutschen Staats­gründungen vor 75 Jahren auf – alternative Versuche eines Neustarts nach dem Zivilisations­bruch im Zeichen des Kalten Kriegs. Den 200. Geburtstag Goethes im selben Jahr 1949 feierten Frankfurt/Main und Weimar unisono mit dem Auftritt des Exilanten Thomas Mann in West wie Ost. Dies­seits und jenseits der Stachel­drahtnaht durch Deutschland beriefen sich die kompromittierten Kultureliten auf Goethe – als wenn nichts gewesen wäre. Nur der Philosoph Karl Jaspers und der aus dem Exil schockiert zurück­kehrende Germanist Richard Alewyn erhoben hörbar Einwände. Die Frage, ob die zivilisa­torische Katastrophe des National­sozialismus auch den Klassikern oder nur ihrer falschen Verein­nahmung anzulasten sei, wurde in beiden Deutschländern zugunsten der Klassiker entschieden. – In der DDR wusste die sozialistische Einheitspartei den territorialen Standort­vorteil zu nutzen und gründete 1953 die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar. Unser Blick richtet sich 2024 auf Aufbruch, Kontinuitäten und Bruchlinien deutscher Kulturpolitik im Umgang mit dem Weimarer ‚Erbe’.

Drei weitere große Ereignisse flankieren das Themenjahr: Am Vorabend des 200. Geburtstags von Großherzogin Sophie – Gründerin des ältesten Literatur­archivs der Welt – feiern wir am 7. April im Goethe- und Schiller-Archiv gemeinsam mit der ganzen Stadt nach einem Fest­gottes­dienst in der Herder­kirche die geistes­gegenwärtige Archiv­ausstellung „Sophie.Macht.Literatur“. Am 2. September begehen wir den 20. Jahrestag des Brand­traumas der Herzogin Anna Amalia Bibliothek mit „Future Memory“ – einem blitz­gescheiten Zeit­zeugen­projekt, das in die Zukunft zielt, weil es Ihre Erinnerungen an das Ereignis 2004 direkt in die Medien-Sammlung der Bibliothek schickt und damit für künftige Generationen „rettet“. Und schließlich eröffnen wir am 21. November eine zweite großartige Forschungs­ausstellung unserer Direktion Museen: „Caspar David Friedrich, Goethe und die Romantik in Weimar“. Goethe als Romantiker, Friedrich als radikal-politischer Künstler und Weimar als Aus­handlungs­ort des Kunst­fort­schritts um 1800 – wir lesen den Klassik-Mythos gegen den Strich und werfen die Stärken unserer Graphik­sammlung und Restaurierungs­expertisen in die Waag­schale des nationalen Friedrich-Jahrs. Diese letzte Kunst­ausstel­lung im Schiller-Museum leitet auf das Schönste hinüber ins Goethe-Jahr 2025 und der zentralen Faust-Ausstellung bei Schiller im Postmoderne-Neubau der späten DDR. Damit kehren Literatur­ausstellungen zurück in die Stiftung. Wenn das Goethehaus 2026 wegen Sanierung schließen muss, dann wird dieser Verlust nicht nur von der Dauer­ausstellung des Goethe-Nationalmuseums wettgemacht, sondern auch von Literatur­themen im Schiller-Museum und dem sich 2026/27 sukzessive öffnenden Ostflügel des Residenz­schlosses – der Ort, an dem Kunst und Macht eine glückhafte Liaison – für eine kurze Hoch-Zeit – eingingen und die Erfindung Weimars begann. Soweit mein Blick in die Zukunft.

Lassen Sie mich mit Goethe enden. Mit Goethes Mut zum Selber­denken und Selbstsein, der ihn noch für jeden Bezugs­missbrauch langfristig unbrauchbar macht. Er verkörperte wie kaum ein zweiter Zeit­genosse Kants Auf­klärungs­begriff, misstraute zeitlebens der Stimme der Mehrheit und verstand es – trotz inniger Bindung an das gesellschaftliche und kulturelle Leben seiner Epoche – ein Einzelner zu bleiben. Der eigen­sinnige Unzeitgemäße vom Frauenplan war so frei, beobachtend, prüfend, reflektierend einen Mindestabstand zu seiner Epoche zu pflegen – vom Revolutionselan seiner Weg­gefährten ebenso wie vom patriotischen Pathos der anti­napoleonischen Befreiungs­kriege, denen er seinen Sohn verweigerte. Für Goethe war jeder getötete Aristokrat, jeder getötete Demokrat ein Toter zu viel. Eingespannt ins Ordnungs­system höfischer und büro­kratischer Interessen, reform­beflissen, der „Forderung des Tages“7 ergeben, nahm Goethe nur so viel Welt in sich auf, wie er verarbeiten konnte. Auch wenn er an vielem Anteil nehmen musste, das er sich lieber erspart hätte – bestimmte er nach Kräften den Wirkungs­kreis seines Lebens selbst.8 Goethe agierte in der Sphäre des Bürger­lichen: des Pensums und der Routinen, des Ausgleichs, der Skepsis gegen das Extreme und der selbstgemachten Erfahrungen. Die zufälligen Orte der trost­losen Misere der Revolutions­kriege, die er 1793 leibhaftig erlebte, hat Goethe als „Symbol der gleich­zeitigen Welt­geschichte“ verstanden – ohne „die mindeste Ahnung“ davon zu haben, „was denn Besseres, ja nur Anderes daraus erfolgen solle“.9

Gerade weil der Mensch kein Natur­wesen ist und in seinen Entscheidungen unergründlich bleibt, verheißt ihm selbst­bestimmte Lebens­führung persönliche Freiheit. „Nicht das macht frei“, so Goethe im Alter, „daß wir nichts über uns anerkennen wollen, sondern eben, daß wir etwas verehren, das über uns ist. Denn indem wir es verehren, heben wir uns zu ihm hinauf und legen durch unsere Anerkennung an den Tag, daß wir selber das Höhere in uns tragen und wert sind, seines­gleichen zu sein.“10 Da haben wir sie wieder, die moderne Spannung zwischen Alltag und Absolutem, zwischen konkretem Mensch-Sein hienieden und abstrakter Menschheit, die ein Höheres verkörpert, zu dem wir uns bekennen, wenn wir uns unserer Vernunft bedienen.

„Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet.“11 Mein Lieblings­philosoph Odo Marquard mahnt „Mut zur Bürgerlichkeit“ an. Verteidigen wir 2024 die liberale Bürgerwelt, die den Ausgleich bevorzugt: das Geregelte gegenüber dem Erhabenen, Ironie statt Extremismus, die Geschäfts­ordnung gegenüber dem Charisma, das Individuum statt der säkularen Heils­gemeinschaft.12 Sorgen wir dafür, dass Aufklärung nicht im emanzi­patorischen Radikalismus kulminiert, sondern in der Skepsis.13 Dazu brauchen wir die eigene, leib­haftige Erfahrung und jede Menge fremder Geschichten, die gegen Uniformierung Widerstand leisten und unsere Fähigkeiten trainieren, Unterschiede zu erkennen. Romane, Museen, Archive, Philosophie, Theater und Kunst können helfen, unsere Denk­horizonte und Handlungs­räume zu weiten, Problem­lösungen komplexer und lebens­tauglicher, unsere Urteils­kraft menschlicher zu machen. Sie ermutigen zur Entlastung vom Absoluten, Ganzheitlichen und Endgültigen, für das der Mensch nun einmal nicht taugt.

1    Stefan Kornelius: Demokraten, seid wachsam, Süddeutsche Zeitung (02.01.2024)
2   Interview mit Carsten Schneider: Frankfurter Allgemeine Zeitung (03.01.2024)
3   Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, 1781
4    Omri Boehm: Radikaler Universalismus, Berlin 2022, S. 47f.
5    Immanuel Kant: Was ist Aufklärung?, 1784
6    Helmuth Plessner: Macht und menschliche Natur, 1931, zit. in: Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit, Frankfurt/M. 2015, S. 146
7    J. W. v. Goethe:  Maximen und Reflexionen
8   Rüdiger Safranski: Goethe, München 2013, S. 15
9   J. W. v. Goethe: Tag- und Jahreshefte, 1793, zit. in: Reinhart Koselleck: Goethes unzeitgemäße Geschichte, in: Goethe-Jahrbuch 1993, S. 31f.
10 J. W. v. Goethe, in: Eckermann: Gespräche mit Goethe, 18.01.1827
11  Odo Marquard: Zivilcourage, in: Skepsis und Zustimmung, S. 125
12  Odo Marquard: Mut zur Bürgerlichkeit, in: Individuum und Gewaltenteilung, S. 94
13  Odo Marquard: Skepsis in der Moderne, S. 53

Neuen Kommentar schreiben

* Diese Felder sind erforderlich

Aus unserem Blog

Vorhaben der Klassik Stiftung Weimar werden gefördert durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und den Freistaat Thüringen, vertreten durch die Staatskanzlei Thüringen, Abteilung Kultur und Kunst.