Die Rede von Stiftungspräsidentin Ulrike Lorenz
„Die Klassik Stiftung Weimar trägt die volle Verantwortung für eine spezifisch kulturelle Vergegenwärtigung von Geschichte, die sich nicht im Bewahren erschöpft, sondern das schöpferische Risiko des Weitermachens und Besserscheiterns wagt“, sagt Ulrike Lorenz beim Jahresempfang am 16. Februar 2023.
Es gilt das gesprochene Wort
Trümmer der Geschichte. Gefährdete Gegenwart. Erinnerung nach vorn.
Sehr geehrter Herr Staatsminister, lieber Carsten Schneider, lieber Herr Minister Hoff, sehr geehrter Herr OB Kleine, verehrte Damen und Herren Abgeordnete, liebe Kolleg*innen aus Kultur, Museen, Bildung, Medien, geschätzte Freundinnen und Förderer, liebes Direktorium und Team der KSW,
237 Jahre alt wäre sie heute geworden: Maria Pawlowna Romanowa. Achtzehnjährig zieht die zweisprachige Enkelin Katharinas der Großen in die bescheidene Residenz an der Ilm ein. Einen Monat zuvor war die kostbare Mitgift auf 30 Wagen, gezogen von 130 Pferden, eingetroffen. Alles in allem eine „ausgezeichnete Acquisition“, wie Schiller nüchtern vermerkt. Weimar jubelt. Carl August nimmt in Kauf, dass er fürderhin im eignen Haus von einer fernen Großmacht kontrolliert wird. 1808 wagt er es nicht, vor Marias Rückkehr aus dem Schoß der kaiserlichen Familie, die neue Verfassung im Herzogtum einzuführen; ein Jahr später kommt es zum Kompromiss: Die Constitution wird verabschiedet, doch nicht veröffentlicht. Sachsen-Weimar hat bürgerliche Grundrechte, das Volk aber weiß es nicht. Goethe indes wird es bis zu seinem Tod nie versäumen, Maria mit frischen Blumen zum winterlichen Geburtstag zu erfreuen.
Kein halbes Jahr nach ihrer Ankunft in der zweiten Heimat hat die russisch-orthodoxe Fremde das im Werden beobachtete Weimar-Paradox durchschaut: „Würden Sie, liebe Mama, es für möglich halten, dass Weimar eine unglaubliche Mischung von Hohem und Niedrigem ist? Einerseits diese drei kapitalen Köpfe (Goethe, Schiller, Wieland), außergewöhnliche Menschen, jeder von ihnen durch seine Eigenart von den anderen unterschieden und kenntnisreich; andererseits der Herzog: der glücklich ist, wenn ihm ein Bonmot einfällt, das so amüsant ist, dass seine Zuhörer sich darüber totlachen …. Auf der anderen Seite, liebe Mama, – Männer und Frauen, die recht unbedeutend oder geradezu unangenehm sind…; – und schließlich, um das Ganze zu krönen, – eine mittlere Sorte von Menschen, die sich nur in der Richtung bewegen, in die sie gestoßen werden.“
Maria Pawlowna bringt als Erbe ihrer Herkunft dreierlei mit nach Weimar: 1. Geld, 2. eine diplomatische Mission und 3. aus intelligenter Wachsamkeit keimende sozial-kulturelle Ambitionen. Als Schwiegertochter Carl Augusts wird sie zur Begründerin der spezifisch ideengeschichtlichen, klassischen Weimarer Erinnerungskultur – Und dennoch habe ich 2019 die zur Tradition geronnene Verknüpfung der Jahresempfänge der Stiftung mit der Zarenschwester aufgelöst. Denn diese dynastische Rückkoppelung kann einer sich mit „Erinnerung nach vorn“ (Jürgen Kaube) noch einmal neu erfindenden Kulturinstitution nicht ganz gerecht werden. Stattdessen treibt die Leidenschaft unserer Ziergärtner*innen weiterhin Mitte Februar schönste Blüten – in Marias Hoffnung duftendem Jardin Portatif.
Der Zufall ihres Geburtstags ist – in fortgesetzten Zeiten des Kriegs und der trostlosen Spaltung in Europa wie auch der Gemüter in Ost und West – Anlass zum nachdenklichen Gedenken an die ortsspezifische deutsch-russische Allianz und ihre produktiven, spannungsreichen Folgen bis heute. Weimar steht paradigmatisch für einen langen, zuweilen intensiven Austausch russischer und deutscher Kultur, der jetzt wie so vieles auf dem Prüfstand steht, als wenn wir – wie es Claudia Roth pointiert – einen Puschkin-Krieg und keinen Putin-Krieg hätten. De facto verweist die Dichotomie der Alliteration aber doch auf einen verstörenden Zusammenhang, worauf ich zurückkomme. Denn Weimar ist, kraft erschreckendster Ambivalenz, gerade der Ort, von dem unbequeme Anstöße zum Überprüfen unumstößlicher Gewissheiten, zum Demontieren allzu einleuchtender Wahrheiten und scheinbar authentischer Schönheiten ausgehen müssen. Ambition und Scheitern, neuer Versuch, Weitermachen, Besserscheitern – das ist und bleibt das Kerngeschäft der Klassik Stiftung Weimar.
Wir leben in gefährdeten Verhältnissen. Sie eskalieren – medial gefiltert in Fernsehbildern, Talkshows und Leitartikeln – täglich vor unseren Augen, ohne bislang unsere Körper zu bedrohen. Auch wenn in Weimar die existentielle Tragweite des Geschehens leibhaftig also kaum spürbar wird – sieht man von verordneten 19°C, steigenden Lebenskosten und existentieller Verunsicherung ab – ist klar: dieser Krieg in Europa besiegelt im Verein mit der postpandemischen Erkenntnis der Unumkehrbarkeit des globalen Klimawandels das Ende unserer Welt von gestern. Nichts wird mehr so sein, wie es meine Generation noch mit der Muttermilch aufsog: das Größer, Besser, Schöner eines unverbrüchlichen Fortschritts. Wir sind zur Re-Vision verdammt und werden uns neu justieren. Sattelzeit – das ist auch die unsrige. Ungeachtet dessen geht das alltägliche Leben immer schon weiter – hier wie dort, im Meinungsgewitter über Panzerlieferungen und in einem realen Kriegswinter mit zerbombten lebenswichtigen Infrastrukturen und tausenden zivilen Toten eines gar nicht kleinen Landes im östlichen Mitteleuropa, das spätestens jetzt – im Standhalten gegen die Angriffswucht des Aggressors – zum europäischen Nationalstaat heranreift, ob wir wollen oder nicht. Und nebenbei werden Menschen geboren, leben, genießen Freundschaft, Kunst und Wein, reden, streiten und sterben im Bett.
Der Start ins 19. Jahrhundert war in unseren, damals direkt betroffenen Breitengraden dramatischer. Und das soll kein Trost, aber Anlass zu historisch fundierter Besonnenheit sein. Eine Vorform von Weltkrieg wird in Mitteldeutschland ausgetragen. Die dynastische Verbindung zum russischen Kaiserhof zieht den Duodezstaat Sachsen-Weimar in den Strudel einer hochexplosiven Globalpolitik. Napoleons Russlandfeldzug 1812, der in der größten militärischen Katastrophe des 19. Jahrhunderts endet – und Weimars Soldaten auf französischer Seite. In diesem ersten Vaterländischen Krieg überschreitet Marias Bruder Zar Alexander I. im Januar 1813 die Memel, rückt mit seinen Truppen innerhalb von sechs Wochen bis an die Elbe vor und präsentiert sich als mystischer Retter Europas. Preußen besiegelt am 28. Februar den Abfall vom Militärbündnis mit Frankreich. Damit beginnen die Befreiungskriege gegen die Fremdherrschaft der kurz zuvor noch von einer bürgerlich-aufgeklärten Öffentlichkeit bestaunten Revolutionsnation. Prompt gewinnt das gesamt-deutsche Nationalbewusstsein an – bald auch destruktiver – Eigendynamik.
Am 16. Februar 1813 feiert Weimar, als läge nicht bleiern Krieg überm Land, in großer Herzlichkeit Maria Pawlownas 27. Geburtstag. Der Musenhof zeigt sich unpolitisch. Goethe höchstselbst führt Regie. Die lebenden Bilder-Scenen nach berühmten Gemälden sind ein diplomatisches Meisterstück. Der französische Gesandte sieht keinen Grund zum Widerspruch, obgleich mit dem „Schwur der Horatier“ von Jacques-Louis David ein Programmbild der Französischen Revolution zum kostümierten und von Gesängen begleiteten Re-Enactment gelangt. Den französischen Patriotismus deutscht der Weimarer Gymnasiallehrer Riemer ein – und beschwört die nationale Einheit der vielstimmigen Deutschen mit Zeilen von unmissverständlicher Einfalt: „Das Vaterland in seinem Schoosse, nährt jede Tugend jeder Kraft: Ihm dient der Kleine wie der Große, wenn er für sich in’s Ganze schafft: zu jedem Opfer gern bereit, wenn es das Vaterland gebeut“.
Im Oktober 1813 stehen sich in der Völkerschlacht bei Leipzig 600.000 französisch-deutsche und russisch-preußisch-schwedisch-österreichische Truppen-Verbände gegenüber. Napoleons Armee wird geschlagen. Man zählt 100.000 Tote; die Verwundeten lassen Leipzig auf das Doppelte anschwellen. (Die Schlacht um Stalingrad endete vor gerade 80 Jahren mit mehr als einer Million Toten und der Vernichtung der 6. deutschen Armee, darunter die in der Militärtradition Carl Augusts stehende thüringisch-hessische 29. Infanterie-Division; von 100.000 Kriegsgefangenen kehren 6.000 zurück nach Deutschland; die 8. sowjetische Garde-Armee, Verteidigerin Stalingrads unter Wassili Tschuikow, ist bis 1992 in Weimar stationiert, ihre Friedhöfe: im Park an der Ilm und vor Schloss Belvedere.)
Zurück ins Jahr 1813: Napoleon flieht. Der Rheinbund bricht zusammen. Carl August tritt dem Bündnis der Russen, Preußen und Österreichs bei, übernimmt den Oberbefehl über das dritte deutsche Armeekorps und marschiert 1815 in Paris ein. Im selben Jahr kehrt die zwischen zwei Heimaten zerrissene Maria Pawlowna von einem diplomatischen Damenausflug zu Fürst Metternich aus den Kulissen der böhmischen Bäder zurück – glücklos. Die Neuordnung Europas bringt Sachsen-Weimar einen Titel, nicht die erhofften Landgewinne. Kaum ist das besiegelt, gründet sich in Jena – wo Heinrich Luden zur Geschichte der deutschen Nation liest – die Urburschenschaft. Sie fordert Ehre, Freiheit, Vaterland, d.h. staatsbürgerliche Verantwortung, patriotische Solidarität gegründet auf ethnischen Prinzipien und individuelle Freiheitsrechte. 1817 demonstrieren Studenten fast aller evangelischen Universitäten auf der Wartburg gegen kleinstaatliche Reaktion, für einen deutschen Nationalstaat mit eigener Verfassung. Das russische Kaiserhaus ist sauer. Alexander hat Europa nicht befreit, damit die Deutschen den Code Napoléon von links überholen. Selbst Weimar gilt als „kleine Brutanstalt des Jakobinismus“, wenngleich nur für kurz und in der rechten Presse.
Politische Dilemmata, wohin man sieht… bis heute. Was nützen wiederholte Versicherungen des Bundeskanzlers – nach einer aus dem Zusammenhang gerissenen, (fremd-)sprachlichen Entgleisung unserer Außenministerin, dass im aktuellen Krieg Russlands Richtung Westen Deutschland keinesfalls Kriegspartei sei, – wenn es einem absolut undurchsichtigen Verschwörungsideologen (der den Stalingrad-Jahrestag prompt zu einschlägigen Drohungen nutzte) anheimgestellt bleiben muss, wann und wie er agiert. Völkerrecht hin oder her, es ist nicht seines. Und andererseits der Dank des unterstützten Staats für die skrupulöse Ankündigung des ersehnten schweren Kriegsgeräts – unweigerlich verbunden wird mit dem Ruf nach mehr und schärferen Waffen.
„Krieg ist eine Herausforderung an die Kunst.“ Alexander Kluge, dessen „Schlachtbeschreibung“ zum Kessel von Stalingrad der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit 1964 erstmals in die Knochen gefahren ist, Kluge beharrt in fortgesetzten Zeiten des Ukrainekriegs auf Kunst als Kunst. Kunst ist nicht Politik. Sie kann zum Spielball von Politik werden. Die größte Annullierung der Kunst findet derzeit in Russland statt. Der Gesinnungsdruck auf Künstler hierzulande ist dennoch kein Akt gegen den Krieg. Kunst entsteht nicht aus moralpolitischer Vernunft, sie ist keine Richterin. Aber Kunst kann politisch gemacht und verstanden werden – und muss sich prompt den öffentlichen Streit darüber gefallen lassen, wie uns die Documenta-Debatte lehrte. Und eben auch das: Kunst ist frei.
Der in Kiew 1891 geborene russisch-sowjetische Jahrhundertliterat Michail Bulgakow diktiert zum Zeitpunkt des Angriffskriegs Nazi-Deutschlands auf die Zweite Polnische Republik seiner dritten Frau die letzten Varianten von „Meister und Margarita“ für die Schublade. Bulgakow stirbt 1940 im Moskauer Bett und hinterlässt mit seinem Meisterwerk eine hochexplosive poetische Flaschenpost an die Nachwelt. Die phantastisch-philosophische Parabel über Macht und Ohnmacht der Kunst, über Gut und Böse und den Sieg der Liebe, ist auch eine Realsatire auf die sowjetische Literaturbürokratie, die Bulgakow 1929 mit dem Verbot seiner Stücke in die persönliche Katastrophe treibt. Der Roman gipfelt in einer Wette mit dem Satan um die Seele und das Werk des Meisters. Ein Schelm, der Goethe dabei denkt und Gogol vergisst. Der rasende Hexenflug Margaritas über Moskau ist Befreiungs- und Racheschlag zugleich – ein dichterischer Schachzug von weltliterarischem Rang, der es Bulgakow erlaubt, den vernichtenden Terror Stalins künstlerisch in den Griff zu kriegen und dessen noch nicht absehbaren realgeschichtlichen Untergang zu antizipieren. In früheren Fragmenten ist die Heimsuchung Moskaus durch den Magier Voland und dessen „Walpurgisnacht“ zuerst 1943, dann 1945 datiert.
1966 erst erscheint der Roman in der Literaturzeitschrift „Moskwa“ und löst ein Erdbeben aus. 150.000 Exemplare sind binnen weniger Stunden ausverkauft. Leser lernen den Text auswendig, zensierte Teile werden handschriftlich verbreitet. Das Buch wird zum Welterfolg. Seine Bühnenversion ist derzeit im Deutschen Nationaltheater Weimar zu besichtigen: in einer unbedingt sehenswerten, tänzerisch leichten und traumhaft sicheren Inszenierung von Luise Voigt.
Im 20. Jahrhundert der Extreme muss der Autor als Ausgesetzter noch ganz andere Maßregeln an das Faust-Dispositiv anlegen als Goethe, der seinerseits über das handwerkliche Problem der Schlussszenen von „Faust II“ zu Eckermann 1831 bemerkt: „Übrigens werden Sie zugeben, daß der Schluß schwer zu machen war und daß ich bei so übersinnlichen Dingen mich sehr leicht im Vagen hätte verlieren können, wenn ich nicht meinen poetischen Intentionen durch die scharf umrissenen christlichen Figuren … eine wohltätig beschränkende Form … gegeben hätte.“
Bulgakow erfindet Margaritas Flug und den transzendentalen Blickpunkt Volands, um die Überfülle seines Stoffs zu organisieren. Er errichtet mit dem Roman – auf E.T.A. Hoffmann Bezug nehmend – einen „Gefechtsturm“. Die stereoskopische Vogelschau erlaubt ihm die literarische Generalabrechnung mit seiner Gegenwart in Stalins Moskau, ohne in platten Allegorismus abzugleiten. Wie sonst ist die bis heute unvermindert anhaltende Deutungsgeschichte zu begreifen? Eine nicht auslotbare Unzeitgemäßheit ist typisch für Klassiker. Wie Goethe weiß Bulgakow immer mehr als er sagt. Wie jener in geschichtsphilosophisch aufgeweckten Zeiten um 1800, schreibt dieser in den 1920er und 30er Jahren konsequent mehrsinnig, multispektral. Vierfacher Schriftsinn – ob historisch-realistisch oder allegorisch, moralisch oder als Ausdruck der Hoffnung – blendet sich kaleidoskopartig ineinander, wird eingeschmolzen in die irrlichternde Ganzheit eines Romans, dessen Sinn sich nicht auf einen Nenner bringen lässt. Kraft ihrer Sprachen entziehen sich Klassiker prinzipiell Reduktionsverfahren dieser Art. Keine Ausdeutung erschöpft ihre Werke, die lebensrettend, auch in ganz anderen Zeiten, sein können.
Bulgakows phantasmagorische Imagination des Flugs in die Freiheit wird dem Historiker Karl Schlögel 2008 zum rettenden Ausweg, sein Opus Magnum „Terror und Traum. Moskau 1937“ zu vollenden. Literatur öffnet ihm die Navigationsstruktur für ein „Narrativ der Gleichzeitigkeit“ aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive. So kann Schlögel endlich das Problem der historischen Simultanität bewältigen: Denn nichts weniger will im Medium linearer Sprache ausgedrückt sein als das: Stalins Staatsterror war viel mehr als eine Staatsaktion, er ist Verhängnis, improvisiertes Nothandeln einer defizitären Macht und ihr schockartiger Einbruch in das Leben gewöhnlicher Menschen, Angst und Totalerschöpfung als Elementarerfahrungen eines unendlich schweren Alltags. Die Vergegenwärtigung dieser unvergleichlichen Matrix in einem synthetischen, hybriden, nicht-ideologischen Zugriff ist für Schlögel ein verpflichtendes und gefährliches Geschäft: „Mit den Toten verantwortlich umzugehen, ist…, was ich als historische Kultur bezeichne.… Mein Job ist nicht, eine Lehre zu vermitteln, sondern mir eine Situation zu vergegenwärtigen. Kommunikation über die Generationsdifferenz hinweg herzustellen…, wir verbrennen dabei.“
Für den Osteuropa-Experten ist Literatur als Weltaneignung eine Quelle ersten Ranges. Undenkbar, ohne sie eine geschichtliche Epoche zu erspüren, einzutauchen in das vibrierende Gewebe einer verlorenen Lebenswelt, den Toten auf Augenhöhe zu begegnen. Anders als Archive, Zeugnisse und Überreste vergegenwärtigt die Verdichtungsleistung des Dichters eben jene durch nichts als Kunst übertragbare, flüchtige Atmosphäre der Auflösung des Menschen unter einem eskalierenden Terrorsystem: „Aber der Henker ist nicht so schrecklich wie das unnatürliche Licht, das von einer Wolke ausgeht, die sich brodelnd über die Erde wälzt, wie es nur bei Weltkatastrophen zu sein pflegt.“ (Michail Bulgakow)
Meine Damen und Herren, wir leben auf den Trümmern unserer Geschichte. Nicht nur die Kunst ist frei, auch wir, die Trümmerverweser und Gedächtnisproduzenten in den Kulturinstitutionen, sind es, – doch nicht ohne Verantwortung. Kultur ist dennoch nicht gleich Kunst. Kultur übersetzt Kunst (und die zum Kulturerbe gefilterten Trümmer der Geschichte) ins öffentliche Leben immer neuer Gegenwarten. Kultur hält das Gespräch über Kunst und Geschichte, Gott und die Welt aufrecht. Kultur, selbst wenn sie staatlich finanziert ist, ist aber nicht der Staat. Kulturproduktion, auch jene von Kulturerbe-Institutionen, ist nicht an Regeln der Politik gebunden. Wir können offener, persönlicher, widersprüchlicher, widerspenstiger sein. Wir brechen nicht die Brücken zu Russlands Kultur, zu russischen Künstlerinnen und Wissenschaftlern ab, bauen und verstärken freilich jetzt auch Brücken zu ukrainischen Institutionen und Menschen. Ein Leben nach dem Krieg muss vorstellbar bleiben, auch während des Kriegs. Sonst gäbe es keine Hoffnung. Kultur sorgt dafür, dass der Faden der Verständigung und des Verstehens nicht abreißt, nicht im Krieg, nicht nach dem Krieg. Versöhnung ist, wir wissen es, ein großes Wort. Dafür gibt es keine Garantie. Auf jeden Fall braucht sie Zeit, vielleicht mehrere Generationen. Währenddessen ist es die Kultur, die zwischen dem Gestern und Morgen vermittelt, Kommunikation über die Generationsdifferenz herstellt, Wiedererinnern und Weiterdenken möglich macht.
Genau deswegen wird der Ukrainekrieg auch auf den Feldern der Kultur geschlagen. Denkmalstürze, Deutungskämpfe verändern derzeit massiv russische und ukrainische Erinnerungskulturen (Wolfgang Kissel). „Cherson ist eine Stadt mit russischer Geschichte“, steht auf Puschkin-Plakaten, mit denen russische Besatzer das Gedächtnis an den einstigen Stützpunkt der Schwarzmeerflotte aktivieren und den Dichter in den Dienst der Invasion stellen. Dieser geschichtspolitischen Kampagne der Putin-Partei „Jedinaja Rossija“ gingen zwei ukrainische Denkmalsturz-Wellen voraus: Seit der Krim-Annexion 2014 werden Lenin-Monumente demontiert, nach dem 24. Februar 2022 trifft es Puschkin. Der Dichter zwischen den Fronten: als Botschafter des russischen Imperiums vom Sockel geholt und für aktuelle imperiale Gebietsansprüche instrumentalisiert.
Dabei war die Puschkin-Verehrung engstens verflochten mit der Mythisierung des ersten ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko (1814-1861). Der Kult um beide Kultur-Heroen wurzelt im europäischen Kontext der Nationalstaatenbildung und der Abgrenzung zunehmend nationalistischer Erinnerungskulturen im 19. Jahrhundert. Goethe und Schiller lassen grüßen. Anders als die in Weimar-Hybris geeinte Kulturnation der Deutschen, erzeugt der Puschkin-Mythos im zaristischen Vielvölkerreich Spannungen. Gegen die Allmacht russischer Kultur und die staatliche Unterdrückung der ukrainischen Sprache und Literatur wird Schewtschenko als nationaler Märtyrer etabliert. Sein Grab auf dem Taras-Berg am Dnipr wird schon 1861 Wallfahrtsort. Dieses erinnerungspolitische Vorbild wiederum befeuert den russischen Kult um Puschkin. 1899, zum 100. Geburtstag, inszenieren Maria Pawlownas Nachfahren der Romanow-Dynastie den Dichter als Protagonisten imperialer Kultur. Nach Gründung der Sowjetunion 1922 ermöglicht Lenins neue Nationalitätenpolitik in der Ukraine einen sozialistischen Schewtschenko-Kult. Aus einem Allunionswettbewerb gehen Denkmäler hervor: 1934 in Charkiw, 1939 in Kiew – in einem Land, in dem gleichzeitig sechs Millionen Menschen durch Stalins Zwangskollektivierung in den Hungertod getrieben werden. Der ukrainische Holodomor gilt heute als Völkermord. Auf dem Gipfel des Großen Terrors 1937 liefert ausgerechnet der Schewtschenko-Massenkult die Matrix für die zentrale Staatsfeier zum 100. Todestag Puschkins in Moskau. – Seit ihrer Unabhängigkeit 1991 formt die Ukraine eine eigene nationalstaatliche Erinnerungskultur – (naturgemäß) aus der Opferperspektive. Jetzt aber wendet sich auch dieses Blatt: Mit der Abschaffung des russischen Kulturerbes in Gestalt Puschkins, dessen Literatur aus dem Schulbuchprogramm gestrichen wird, verliert die Ukraine ihre geschichtspolitische Unschuld und kommt im Europa der Nationen an, inklusive aller Widersprüche.
Kunst trainiert Wahrnehmung. Kultur trainiert Differenzierung und Urteilskraft. Geistesgegenwärtige Museen, Archive und Bibliotheken entbergen aus den Bergwerken der Quellen, Sammlungen und Traditionen Orientierungswissen für das Hier und Heute. Kunst ist für Kluge Gegen-Algorithmus zum Krieg. Kulturinstitutionen und Geschichtsschreibung produzieren andere Gegen-Algorithmen. Historiker unterliegen dem „Vetorecht der Quellen“, Künstler nicht. Kulturinstitutionen vermitteln zwischen beiden Polen. Für ihre Übersetzungsleistung und Brückenfunktion zwischen Wissenschaft und Kunst, Historie und Imagination, zwischen Gestern und Morgen sind sie auf den eigenen reflektierten und verantwortlichen Umgang mit der Welt von heute angewiesen – wie auch Wissenschaft und Kunst. Es gilt gemeinsam, besonders in Übergangszeiten wie der unsrigen, alle Sinne zugleich ganz nah bei den Ereignissen und Phänomenen – und auf dem Gefechtsturm zu haben. Goethe, der große Unzeitgemäße, verweist auf die „Wahrheit der fünf Sinne“. Daraus erwächst historische Erkenntnis: von der Anschauung über die auf Bildung fußende Einbildungskraft zum Urteil. Nur so kann auch unsere Sattelzeit zum Trainingsort für Sinne und Denken, zum Labor für die Neuausrichtung unseres gesamten Tuns werden. Wenn Kultur und Wissenschaft dafür sorgen, dass Gegenwart unablässig beobachtet, beschrieben, verglichen und durchdacht werden kann, dann schult sie auch das Verantwortungsbewusstsein und das Instrumentarium dafür, dass Geschichte den lebendigen Bezug zur Gegenwart nicht verliert – Vergangenheit also nicht vergeht, sondern wirksam bleibt, als Erinnerung, Störung, Differenzmaschine, als Katalysator fürs Weitermachen, Besserscheitern.
In diesem Sinne trägt die Klassik Stiftung Weimar die volle Verantwortung für eine spezifisch kulturelle Vergegenwärtigung von Geschichte, die sich nicht im Bewahren erschöpft, sondern das schöpferische Risiko des Weitermachens und Besserscheiterns wagt. Ich gebe drei Beispiele: In unserem Labor vor dem Schloss feiern wir heute die Premiere des Kommunikationsprojekts „Schloss erzählen“. Das Schloss ist Baustelle. Erst 2025 werden wir im Ostflügel den neuen Empfangsbereich eröffnen, 2026 in den historischen Schauräumen die „Erfindung Weimars“ zeigen. Während wir im Innern Mauern freilegen und Oberflächen restaurieren, beim Schwammbeseitigen um jeden Holzbalken ringen, aber auch Stahlträger einziehen, um den klassizistischen Festsaal zu festigen, erzählen wir Schlossgeschichte, auch im Medium der Fotografie, des Hörstücks, in Form von Workshops und Literatur. So reißt der Gesprächsfaden nicht ab.
Am Vorabend des ersten Jahrestags der russischen Invasion veröffentlichen wir im Blog der Stiftung ein viertes, besonders starkes Stück Literatur der ukrainischen Schriftstellerin Kateryna Mishchenko, mit der wir seit Frühjahr 2021 eine intensive Arbeitsbeziehung eingegangen sind. „Über uns erstreckt sich toxischer Himmel und das Gift dringt durch uns tief in die Erde ein.“ Mishchenkos kurzer, dunkler Text erinnert an Bulgakow.
Mit zeitgenössischen Künstlern denken wir über neue Formen der Erinnerung im Goethe-Nationalmuseum nach. Ab 1. Juni zeigen wir „La Grande Maison“, eine filmische Ruinen-Erzählung aus Weimar und Rom von Danica Dakic. Sie handelt von Erinnern und Vergessen, Erben und Zerstören, von der Fragilität der menschlichen Existenz. Der mythisch aufgeladene Ort des Goethehauses, an dem allein seine stete Verwandlung, Instrumentalisierung und Widersprüchlichkeit authentisch sind, wird durch den „Ruinenblick“ aufgebrochen – Vorgriff auf eine neue klassische Erinnerungskultur in Weimar, die reflektierend und nicht restaurativ ist und eher von einer möglichen Zukunft als von imaginären Vergangenheiten träumt. Auch in unseren kommenden Themenjahren, mit der digitalen Transformation unserer Bildungsarbeit, mit Forschungsprojekten wie zu den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der DDR sorgt die Klassik Stiftung Weimar geistesgegenwärtig dafür, dass Geschichte für die Auseinandersetzung mit unserer Gegenwart wirksam bleibt.
Meine Damen und Herren, dass der Gesprächsfaden über Generationen und Grenzen hinweg nicht abreißen und auf den Trümmern der Geschichte Erinnerung nach vorn gelingen möge – das ist unsere Aufgabe ...
Neuen Kommentar schreiben