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Philosophie aus der Ukraine

Gregorius Skoworoda und die Freiheit

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In der Nacht zum 7. Mai 2022 zerstörten russische Raketen in der Nähe von Charkiw das Museum des ukrainischen Dichters Gregorius Skoworoda. Vitalii Mudrakov, Fellow am Kolleg Friedrich Nietzsche, blickt auf die Philosophie des rastlosen „ukrainischen Sokrates“ – und erklärt, warum der Angriff von russischer Machtlosigkeit erzählt.

Freie Philosophie – seit dreihundert Jahren

Das Leben Gregorius Skoworodas (1722-1794) war außergewöhnlich. Er unternahm viele Reisen und pilgerte durch Osteuropa, weshalb er auch als wandernder Philosoph bezeichnet wird. Er war ein Vegetarier aus der Generation Immanuel Kants, der kaum schlief. Alles, was er besaß, waren die Bibel, seine eigenen Aufzeichnungen, eine Flöte und die Freiheit. Skoworoda arbeitete als Privatlehrer und machte Karriere als Sänger am Zarenhof. Er studierte Philosophie und später Theologie an der Kyjiw Mohyla-Akademie und vermutlich auch an den Universitäten von Halle und Breslau. Neben Latein beherrschte er Griechisch, Deutsch und Hebräisch und verfasste seine philosophischen Dialoge und Abhandlungen im damals gebräuchlichen Kirchenslawisch. Auch musikalisch war er sehr begabt, spielte Geige, Bandura und Flöte und komponierte zahlreiche Lieder.

Skoworodas Ideen sind für das 18. Jahrhundert ungewöhnlich, denn sein Denkstil spiegelt keine tendenziösen Normen wider, sondern ist in mancher Hinsicht in alten Weisheiten verwurzelt und in mancher Hinsicht seiner Zeit voraus. So ist Skoworoda einerseits in der antiken Philosophie bewandert, zitiert neben Cicero auch die Bibel und verwendet viele Motive der frühen Kirchenväter. Andererseits ist sein Denken auch von islamischen und indischen Weisheiten geprägt. Aus diesen Inspirationsquellen entsteht eine einzigartige Synthese von Zukunftsvisionen. Skoworoda findet und mischt alles Wertvolle. Man könnte sagen, dass er ein einzigartiges Gespür für kulturell bedeutsame Erscheinungsformen hat.

Es ist gar nicht so leicht, etwas über die Struktur seiner Philosophie zu sagen, denn seine Texte sind sehr unterschiedlich und von Mystik durchdrungen. Oft spielen die Motive Dunkelheit und Licht eine Rolle. Skoworoda sagt, dass das Leben ein Krieg sei, ein Kampf gegen materielle Versuchungen, das heißt gegen den Überfluss an Gütern, die man von Natur aus eigentlich nicht braucht, um glücklich zu sein.

Die Selbsterkenntnis als Teil seiner Erkenntnistheorie ist hier von zentraler Bedeutung. Erst wenn sich der Mensch selbst erkenne, könne er Welt- und Gotteserkenntnis erlangen. Für Skoworoda muss der Mensch dabei auf sein Herz hören, das Zentrum des Lebens ist und humanistische Werte symbolisiert. Eine durch das Herz geleitete Erkenntnis wird dabei durch Sympathie, Empathie, sinnliche Erfahrung und Einsicht erreicht. Das heißt, sie vereint sowohl Verstand als auch Intuition und ist funktionell vergleichbar mit dem griechischen Konzept des eidos.

Besonders häufig thematisiert Skoworoda das Glück. Was Glück sei und wie es erreicht werden könne, hängt für Skoworoda mit dem menschlichen Bedürfnis zusammen, Teil von etwas Größerem zu sein. Ein Mensch könne fast alles, aber es fehle ihm etwas, das sinnvoll sei und über ihn hinausgehe. Hier wird Skoworodas Platonismus deutlich: Jeder Mensch ist in zwei Naturen geteilt. Die erste ist niedrig, äußerlich, dunkel; die zweite ist hoch, innerlich, wahr, göttlich. Die erste Natur ist eine Manifestation des Kreatürlichen, die zweite ist eine Manifestation des Göttlichen. Das Universum interpretiert Skoworoda in Form von drei Welten: den Makrokosmos – das ist die gesamte Welt um uns herum –, den Mikrokosmos – das ist die Welt des Menschen („Der Mensch ist eine kleine Welt“) und die Welt der Symbole – die Bibel. Diese Welten sind ständig in Bewegung und miteinander verbunden. Ohne eine von ihnen zu kennen, ist es unmöglich, die beiden anderen zu kennen. Ein solches Ungleichgewicht führt zum Unglück, das Skoworoda oft als das Böse versteht und als Chaos oder Unordnung interpretiert.

Auch sein Begriff der Affinität gründet in diesen Ansichten: Skoworoda fragt nach der Berufung eines und einer jeden. Dabei geht es nicht darum, nach Höherem oder Tieferem zu suchen, sondern nach dem, was die je eigene Berufung beziehungsweise Affinität ist. Skoworoda sagt, dass jeder Mensch seine eigene Natur hat, die man finden sollte. Jeder und jede trägt bereits einen Keim dieser präexistenten Natur in sich. In diesem Sinne stellt er sich gegen den Existentialismus, dem zufolge es eine solche Natur nicht gibt, sondern sie sich auf dem Weg der Existenz erst herausbildet. Deshalb wirft man Skoworoda heute gelegentlich vor, konservative Ansichten zu vertreten. Skoworoda konzentriert sich jedoch nicht darauf, jemanden einzuschränken, sondern lehrt vielmehr, dass dieses Prinzip – seine Berufung zu finden und sich ihr anzunähern – der Schlüssel zu Erfolg und Glück sei.

Die Besonderheit dieser Suche erklärt Skoworoda mit dem Konzept der ungleichen Gleichheit: Darin vergleicht er die Menschen mit unterschiedlichen Gefäßen oder Krügen. Ein göttlicher Brunnen befüllt sie jeweils bis zum Rand mit Wasser. So unterscheiden sie sich zwar – sie erhalten unterschiedliche Wassermengen und auch die Formen und Größen der Gefäße variieren –, aber sie sind gleichermaßen göttlich erfüllt. Für den Menschen ist es daher wichtig, sich selbst voll und ganz zu spüren, wodurch er glücklich wird.

Philosophie der Freiheit

Freiheit ist für Skoworoda nicht nur ein zentrales philosophisches Thema, es bestimmte auch sein persönliches Leben. Der Freiheitsgedanke in seinem Leben war so mächtig, dass sich sogar Legenden um seine Person ranken. Es heißt, die Freiheit habe ihn vor der Frau und der Kirche „gerettet“, also vor der Ehe und dem Mönchsein, vor dem er angeblich im letzten Moment geflohen ist. Nicht umsonst lautet einer der berühmtesten Aussprüche des Philosophen:„Die Welt jagte mich, konnte mich aber nie fangen.“Dies bedeutet, dass Skoworoda die Welt als eine Reihe verschiedener normativer oder dogmatischer Formen versteht, die ihn jedes Mal irgendwie zu fesseln und zu begrenzen versuchen.Das Thema der Freiheit war entscheidend für das Leben seiner Mitmenschen. Skoworoda lebte zur Zeit der Leibeigenschaft, und als Sohn einer Kosakenfamilie auf dem Lande hatte er die soziale Unterdrückung immer vor Augen. Der Philosoph spricht sehr wortgewandt in poetischer Form über die Freiheit als einer Gemeinschaftsidentität von Ukrainern und Ukrainerinnen, wobei er das Problem und seine Haltung dazu verdeutlicht:

De Libertate

Was ist die Freiheit? Was ist gut daran?
Soll es Gold sein? – so sagt man?
Nein, kein Gold: alles daraus wird zur Maßeinheit,
Es ist nur Schlamm gegen die Freiheit.
Ich möchte mich nicht zum Narren machen,
Nur um unfrei zu bleiben.
Der Ruhm wird mit dir sein in Ewigkeit,
Bohdan der Held, Vater der Freiheit!1

Besonders wichtig ist hier die Erwähnung von Bohdan Chmelnyzky, der 100 Jahre vor Skoworodas Lebzeiten starb. Alles, wofür er gekämpft hatte, war verloren. Es gab keine Autonomie innerhalb der Rzeczpospolita,2 für die er de jure gekämpft hatte; es gab keinen Kosakenstaat, für den er de facto gekämpft hatte. Es gab nur das Russische Kaiserreich, das angeblich ewig sei. Skoworoda sagt, dass die Freiheit lebendig ist, dass er und die Menschen von damals sie geerbt hätten und dass sie fortgesetzt werden kann und soll. In diesem Zusammenhang erhält die Aussage „Die Welt jagte mich, konnte mich aber nie fangen“eine neue Dimension, nämlich absolute Ernsthaftigkeit. Sie zeigt Skoworodas persönlichen Kampf für die Freiheit, für die schon Bohdan gekämpft hat. Dieses Gedicht ist sein Werkzeug des Kampfes, den er unter anderen Bedingungen fortsetzt.

Heute sind dieses Gedicht und seine Ideen von besonderer Bedeutung für die Ukraine, die im Krieg gegen Russland um ihre Freiheit kämpft. Skoworoda inspiriert die Ukrainer und Ukrainerinnen, die ihn als den ihren betrachten, er gehört unumstritten zur ukrainischen Kultur. Bedauerlich ist, dass Skoworoda auch vonseiten Russlands vereinnahmt wird. Aber eine solche Identität ist aus der Sicht einer Philosophie der Freiheit unmöglich, denn die Philosophie der Freiheit, die die besondere Berufung des Individuums betont, unterläuft jede ideologische Vergemeinschaftung. Die totalitäre Ideologie Russlands aber löst die Persönlichkeit in etwas Größerem auf: in der Religion, im Staat oder im Volk. Daher ist gerade heute der Gedanke, dass gegen die Freiheit alles Gold „nur Schlamm“ sei, von größter Bedeutung für die freie Welt: Freiheit für jede und jeden und vereint gegen den Totalitarismus.

Eine symbolische Bestätigung der formulierten Idee über den Kerngedanken der Konfrontation, nämlich Freiheit gegen ihre Auflösung, Freiheit gegen Totalitarismus, ist ein bedauerliches Ereignis: In der Nacht zum 7. Mai 2022 wurde das Skoworoda gewidmete Nationale Literatur- und Gedenkmuseum durch einen russischen Raketenangriff zerstört. Das Gebäude befand sich am Rande des Dorfes Skoworodynivka und hatte keine militärische Bedeutung, aber es hatte zweifellos einen Wert und eine symbolische Bedeutung für die Philosophie der Freiheit des ukrainischen Geistes. Die Zerstörung des Hauses hat nicht zur Zerstörung der Freiheit geführt und wird auch nicht dazu führen. Vielmehr zeigt sie, dass die Waffe des Totalitarismus gegenüber der Geisteskraft der Freiheit machtlos ist. Und es spielt keine Rolle, welche nationale Tradition die Philosophie der Freiheit auslegt. Sie ist sogar dazu bereit, sich in Lebensgefahr zu begeben, um diesen Freiheitsgedanken zu schützen.

Anmerkungen

1 Сковорода Григорій. De Libertate. https://www.ukrlib.com.ua/books/printit.php?tid=269 (Übersetzung ins Deutsche durch V. Mudrakov).
2 Rzeczpospolita ist eine seit 1569 verwendete Bezeichnung für das Staatssystem, das das Königreich Polen und das litauische und russische Großfürstentum (1569–1795) umfasste.

1 Kommentar

  • Julia Dormann 29. August 2024
    Vielen Dank für diesen Artikel. Ich habe erst vor Kurzem Skovoroda für mich entdeckt. Und die Worte können es nicht ausdrücken, wie tief seine Gedanken, Aphorismen und Gedichte mein Herz berühren. Leider gibt es kaum Veröffentlichungen in deutscher Sprache. Daher lese ich das Meiste in Englisch, teilweise findet man Bruchteile seiner Werke im Internet. Ich lerne Ukrainisch und versuche mich in "Powna Akademichna Zbirka Tworiv" von Uschkalow. Aber das ist für mich noch recht kompliziert.

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