Risse, Formen und Spuren an einer unscheinbaren Fassade: Was hat ein verlassenes Gebäude mit uns und der jüdischen Geschichte in Apolda zu tun? Silvan Gottschall über ein Format, das das Sprachlabor unterwegs zusammen mit dem Prager Haus e.V. vor dem einst renommierten Kaufhaus „Becker und Salinger“ angeboten hat.
Das Kaufhaus „Becker & Salinger“
Wir laufen geradewegs auf ein leerstehendes Gebäude zu. „Das dreistöckige Kaufhaus war einst ein bedeutender Modewaren- und Einkaufsladen in bester Lage“, erklärt Frank Colberg. Frank macht gerade seinen Bundesfreiwilligendienst im Prager Haus e.V.1 Wir – Kirsten Münch und Silvan Gottschall vom Sprachlabor unterwegs – sind zusammen mit ihm auf der Suche nach einem Ort, der uns etwas über die jüdische Geschichte in Apolda erzählen kann.
Das Kaufhaus, vor dem wir jetzt stehen, wirkt verlassen und macht auf uns einen unscheinbaren Eindruck. Erst als Frank weitererzählt, erfahren wir mehr: „Betrieben wurde der Einkaufsladen von Otto Becker und Eugen Salinger bis zum März 1938. Auf Grundlage der nationalsozialistischen Gesetzgebung wurde Eugen Salinger als Jude verfolgt. Gleichzeitig wurde ihm die Weiterführung des Geschäfts nicht erlaubt. Spätestens nach dem antisemitischen Pogrom vom 9. November 1938 wurden auch in Apolda alle jüdischen Geschäfte ‚arisiert‘.“
Über Jahre hat der Verein in ehrenamtlicher Tätigkeit das historische und ortsspezifische Wissen über die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Einwohner*innen von Apolda aufgearbeitet. Gesammelt und ausgestellt werden die Geschichten und Objekte im Lern-und Erinnerungsort Prager-Haus in der Bernhard-Prager-Gasse. Die Geschichte des Kaufhauses und seiner ehemaligen Besitzer*innen ist nur eine unter vielen, über die man hier mehr erfahren kann.
Und doch, denken wir, muss genau diese Geschichte hier vor Ort erzählt werden. Das Kaufhaus steht an einem sehr zentralen Platz. Hier kommen viele Leute täglich auf ihrem Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen vorbei. Sie finden ein verlassenes Gebäude und eine stark beschädigte Fassade vor. Dass dies einmal anders gewesen ist, und wie es zu den Änderungen in den Besitzverhältnissen kam, möchten wir in Erinnerung rufen. Deswegen entscheiden wir uns dafür, vor dem ehemaligen Kaufhaus eine Veranstaltung mit dem Sprachlabor unterwegs auszurichten.
Beim Sprachlabor unterwegs handelt es sich um Angebot aus der Kulturellen Bildung der Klassik Stiftung Weimar. Mit umgebauten Lastenrädern bieten wir wöchentlich Vermittlungsstationen im Stadtraum zu einem bestimmten Thema an, wobei es dieses Mal – passend zum Themenjahr 2022 – um Sprache geht.2 Hier haben Passant*innen die Möglichkeit, etwas Eigenes zu gestalten und mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen.
Gemeinsam gestalten: Das Kaufhaus ABC
Es sind nun elf Wochen vergangen, am 19. Mai stehen wir mit den Lastenrädern vor dem Kaufhaus auf dem heutigen Alexander-Puschkin-Platz. Das Format, mit dem wir uns mit Passant*innen der Geschichte von Becker & Salinger annähern möchten, heißt „Kaufhaus ABC“3. Es soll den individuellen Zugang zu dem leerstehenden Gebäude ermöglichen und den Dialog zwischen den Beteiligten anregen:
In dem Format sollen Teilnehmende die Oberfläche eines Gebäudes nach Buchstaben absuchen. Nicht nach denen, die dort tatsächlich geschrieben stehen. Stattdessen suchen sie die Fassade, Türen, Fenster und Werbedrucke, aber auch Risse und Löcher nach Formen ab, aus denen sie die Anfangsbuchstaben ihres Vor- und Nachnamens ableiten können. Von ihren Funden machen sie ein Foto, das sie auf eine bestimmte Größe zoomen, damit sie mithilfe von Transparentpapier und Moosgummi Stempel herstellen können. Sobald diese fertig sind, werden sie in ein Stempelkissen gedrückt und auf eine Karte übertragen. Die gedruckten Ergebnisse können sie mitnehmen, nur die Stempel heben wir noch auf, um daraus am Ende der Veranstaltung ein gemeinsames Druckerzeugnis herstellen zu können.
Gemeinsam erinnern
Kinder kommen zu unserem Stand, junge Familien und Senior*innen. Sie sind neugierig und wollen wissen, was es bei den bunten Lastenrädern mit den ungewöhnlichen Aufbauten gibt. Manche legen direkt los und suchen das Gebäude nach den Initialen ihrer Namen ab. Andere informieren sich auf einer Infotafel, die das Prager Haus zum Workshop mitgebracht hat, über die Geschichte des Kaufhauses und die Verfolgung von Eugen Salinger.
Tatsächlich kommen wir mit einigen Passanten intensiver ins Gespräch und unterhalten uns über das Kaufhaus. Eine Frau ist erstaunt: „Ich wusste gar nicht, dass dies früher ein Kaufhaus war“. So geht es auch anderen, die – ähnlich wie wir, als wir zusammen mit Frank unterwegs waren – die Geschichte von Becker & Salinger nicht kannten. Die Frau regt an, dass man etwas Dauerhaftes – etwa eine Informationstafel – anbringen könne, die Geschichte solle nicht in Vergessenheit geraten.
Ein Herr hingegen kennt das Kaufhaus noch aus früherer Zeit: „Ach ja, ich erinnere mich noch an die Spielwarenecke, dort wollten die Kleinen immer mit mir hin“, erzählt er. Lebhaft beschreibt er uns weiter, wie das Kaufhaus einmal aussah. Wir erfahren, dass das Kaufhaus zu seiner Zeit üppig bestückt war – mit Teppichen, Seidenmode, Spielwaren und vielem mehr – und dadurch ein besonderes Renommee erlangte.
Während des Workshops entstehen immer mehr Buchstaben. In einem Riss in der Fassade entdeckt eine Person ein „S“. Eine andere Person leitet aus einer Werbetafel, auf der eine Frau mit Perücke zu sehen ist, den Buchstaben „U“ ab. Und zwei Geschwister entdecken in einem Fenster jeweils ein „H“ und ein „A“.
Die Suche und das Gestalten der Buchstaben schaffen Gesprächsanlässe – Erinnerungen werden ausgetauscht, Beobachtungen miteinander geteilt –, und zugleich verweisen sie auf eine vergangene Zeit. Immer wieder kommen wir auf Becker & Salinger zu sprechen und damit auch auf die Arbeit des Vereins. Die individuelle Geschichte der verfolgten und vertriebenen jüdischen Einwohner*innen der Stadt wird auf einmal lebendig.
Am Ende des Tages liegt eine umfangreiche Stempelsammlung vor. Mit den Beteiligten nehmen wir uns ein großes Stück Pappe und sammeln die passenden Buchstaben zusammen, um den Namen des Kaufhauses drucken zu können: Becker & Salinger. Ein gemeinschaftliches Werk, das wir dem Prager Haus e.V. schenken wollen. Der Verein ist begeistert über das große Interesse an der kurzweiligen Aktion. Der Nachmittag bestätigt uns darin, dass man mit Interventionen im öffentlichen Raum ganz anders mit den Menschen über Geschichte sprechen kann. Zusammen mit dem Verein planen wir bereits weitere Angebote für die kommende Saison. Dann wird das Sprachlabor unterwegs zum Wohnlabor und wieder im Stadtbild von Apolda auftauchen.
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