© Candy Welz
Theater im Rokokosaal

Die Bibliothek brennt

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Der Rokokosaal wird Aschenputtel zur Bühne – Reinhard Laube schreibt über Roland Schwabs Neuinszenierung von Rossinis Oper „La Cenerentola“ im Weimarer DNT.

Was hat der Brand der Weimarer Bibliothek im Jahr 2004 mit Rossinis erfolgreicher Oper „La Cenerentola“ zu tun, uraufgeführt 1817 in Rom? Auf den ersten Blick nichts – doch mit der Neuinszenierung von Rossinis Opera buffa sehr viel. Unter der Regie von Roland Schwab wird der Brand Auslöser für die Freisetzung von Weimarer Geis­ter­ge­sprä­chen im Zeichen der Gegenwart und mit Aussicht auf Aschenputtels Tri­umph der Güte. Hoffen dürfen wir und enttäuscht werden wir von der Wirksamkeit von Idealen, die auch in Weimar um 1800 propagiert wurden: Würde, Liebe und Humanität. Sie sind gleichzeitig verbunden mit Katastrophen und Realitäten, die Sicherheiten auflösen. Es sind einschneidende Ereignisse, die menschenverbindende Handlungen und Ideale mobilisieren können – nicht müssen.

Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant schreibt angesichts der Französischen Revolution von einem „Geschichtszeichen“, das in der „Denkungsart der Zuschauer“ entsteht, um sich für die Gestaltung der Zukunft an der Geschichte zu orientieren: Freiheit, Moralität und das „Fortschreiten zum Besseren“. Geschichtszeichen kom­men und vergehen. Sie sind zeitabhängig. Im Rückblick war der Brand der Weimarer Bibliothek im Jahr 2004 ein Geschichtszeichen, das ein neues Bild von Bibliothek und kultureller Überlieferung erzeugte: Die Zivilgesellschaft rettet durch ihr Engagement die schwer brandgeschädigte Bibliothek und erneuert so die Idee der Bibliothek. Sie ist offen für den Gebrauch und Deutungen ihrer Sammlungen sowie die Wahr­neh­mung ihrer Funktion als öffentlicher Raum. „Aschebücher“ sind keine Verluste, son­dern können mit Einsatz von privaten und öffentlichen Mitteln, durch Forschung und Entwicklung für die Zukunft erhalten werden.

Für die Zeitgenossen Rossinis und Goethes waren es die politischen und industriellen Revolutionen, die als Zusammenbrüche von Ordnungen erfahren wurden. Sie wurden gesteigert durch Revolutionskriege und Napoleonische Feldzüge, die auch auf die Weimarer Lebenswelt heftig einwirkten. In seinem Kriegsbericht über die Campagne der alliierten Fürsten gegen das revolutionäre Frankreich schreibt Goethe mit Blick auf den Kampf um Mainz: „In Schutt und Trümmer war zusammengestürzt was Jahr­hun­der­ten aufzubauen gelang“. Im Angesicht des Revolutionszeitalters wird der Historiker Jacob Burckhardt von einem Sturm sprechen, „welcher seit 1789 die Menschheit faßte, auch uns weiter trägt“. Im Ergebnis werden soziale Ordnungen nunmehr als selbst tragend beschrieben, weder ein Gott noch die Natur kann sie garantieren. Sie sind den Risiken und Abgründen der modernen Gesellschaft ausgesetzt.

In Rossinis komischer Oper wird der Epochenumbruch der politischen und in­dus­tri­el­len Revolutionen im Libretto von Jacopo Ferretti greifbar: Die tugendhafte Liebe und Herrschaft obsiegen im anarchischen Gewimmel aus Eitelkeiten, Täuschungen, Auf­stiegs­phan­ta­si­en, Egoismen und Missgunst. Angesichts der durch Ordnungsverlust freigesetzten Gier der Beteiligten gelingt der unwahrscheinliche Fall des Aufstiegs einer Reinigungskraft zur Prinzessin mithilfe durchsetzungsfähiger Ideale. Auch die Akteure der Weimarer Klassik um 1800 brauchten Ideale, um die Selbsterhaltung ihrer Existenzen und Lebensordnungen angesichts des Einbruchs von Revolution, Krieg und Zerstörung zu sichern. Die Erfahrungen des Krieges, der im Oktober 1806 auch Weimar erreichte, befördern den Sinn für Realismus und zugleich den Ruf nach dem verbindenden Geist von Menschheit und Humanität – fragwürdig in Reichweite und Grenzen ihres Anspruchs.

In der Inszenierung von Roland Schwab ist der Brand Katalysator für aktuelle Fragen an den Weimarer Kosmos, die Zeitebenen brennen durch und ermöglichen un­glaub­li­che Begegnungen, die Vergegenwärtigung klassischer Fragen. Durch die Fahr­läs­sig­keit einer Hausmeisterfamilie in der Bibliothek werden der Brand und eine Geis­ter­stun­de ausgelöst: In der Konstellation von „Cenerentola oder der Triumph der Güte“ werden der Hausmeister und seine Familie auf die der Asche entsteigenden Geister Weimars treffen: Carl August als Prinz Don Ramiro und Goethe in der Rolle des Philosophen Alidoro.

Und so kommt der Rokokosaal als gesellschaftlicher Ort zu sich selbst: Er wurde im 18. Jahrhundert als Festsaal des Buches errichtet und ist von Anbeginn ein Raum, in dem Gesellschaft nach Maßgaben ihrer Zeit realisiert wird. So besichtigt ein Bi­blio­theks­rei­sen­der 1791 in diesem Saal das Herzogtum: „Es pranget zugleich mit den Bild­nis­sen der alten Herzoge und Churfürsten von Sachsen und anderer königlichen und fürstlichen Personen, wie auch mit den Büsten jeztlebender Gelehrten, die von der geschickten Hand des dasigen Hofbildhauers Hrn. Klauer, in Stein und Gyps ge­ar­bei­tet sind.“ Es ist nur konsequent, in diesem auf Gegenwartsbezug angelegten Raum mit Aschenputtel Weimarer Geister auftreten und befragen zu lassen. Die Geschichte des Raums ist dynamisch – Büsten, Bilder, Bücher und Vitrinen werden verrückt, neue Perspektiven hergestellt. Nach dem Brand entsteht wieder ein Raum der Bibliothek, offen für Interpretationen der Gegenwart – Raum für ein Geschichtszeichen, das in der „Denkungsart der Zuschauer“ entsteht.

Der Text von Reinhard Laube wurde ursprünglich im Programmheft der Oper veröffentlicht.
Laden Sie das Programmheft hier herunter.
Fotos: Candy Welz

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