Der falsche Schiller
von /Zuerst schöpft niemand Verdacht, als in den Jahren um 1850 plötzlich zahlreiche Schiller-Manuskripte auftauchen. Doch bald ermittelt die Staatsanwaltschaft – und der erste große Fälscherprozess in der neueren deutschen Geschichte beginnt. Die Reportage zur Ausstellung Mit fremder Feder im Goethe- und Schiller-Archiv.
Es war keine Allerweltsgaunerei, die da im Februar 1856 vor dem Großherzoglichen Kreisgericht Weimar verhandelt wurde. Es war ein Angriff auf die ‚deutsche Seele‘. „Dieser Betrug hat sich zum Frevel gegen die öffentliche Ehre Weimars gestaltet und zum Frevel gegen das Andenken des edelsten und geliebtesten Dichters der deutschen Nation, da der Täter sich nicht entblödet hat, Machwerke der liederlichsten Art für Originalprodukte Schillers auszugeben.“ Selbst durch den Prozessbericht des sonst so nüchternen Juristen Anton Vollert schwingt Empörung. Hatten die Deutschen doch gerade ein Jahr zuvor den 50. Todestag Friedrich Schillers groß gefeiert.
Namhafte Autographenhändler boten seine Manuskripte gar als Reliquien der deutschen Literatur an. Und jetzt stand da ein Mann vor Gericht, der aus nichts als schnöder Gewinnsucht ihr Idol durch seine Fälschungen hundertfach beschmutzt hatte. Angewidert urteilt Prozessbeobachter Vollert über den Auftritt des 41-jährigen Angeklagten Heinrich von Gerstenbergk: „Die zuversichtliche Keckheit, die geläufige Geschwätzigkeit seiner Schutzreden lassen schließen, dass es ihm gar nicht unerwartet kommt, als Fälscher und Betrüger unter Anklage zu stehen.“
Vom signierten Lyrikschnipsel und Bibliothek-Ausleihzettel über verstreute Briefe bis hin zu kompletten Gedichten und umfangreichen Dramenfragmenten – bei Gerstenbergk war Schiller in allen Preisklassen in erstaunlichen Mengen erhältlich. Ein Handzettel des Meisters war schon für ein paar Groschen zu haben. Fast jedem Manuskript gab Gerstenbergk durch einen schwungvollen „Schiller“ als Unterschrift ein zusätzliches Gütesiegel. Nur dumm, dass der wahre junge Schiller häufig nur mit einer Paraphe „S“ signierte und auch nicht jeden belanglosen Notizzettel mit seiner Unterschrift veredelte.
„Die Schiller-Nachahmungen sind heute genauso sorgsam behütet und wohltemperiert untergebracht wie der echte handschriftliche Nachlass.“
„Wir besitzen die größte Sammlung von Schiller-Fälschungen, es sind über 240 Falsifikate mit mehr als 380 Blatt, ein Großteil davon aus dem Nachlass von Schillers Tochter Emilie“, erzählt Gabriele Klunkert. Die Archivwissenschaftlerin arbeitet am Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar – dem ältesten Literaturarchiv Deutschlands. Die Anlaufstelle für Forscherinnen und Forscher aus aller Welt logiert in einem neoklassizistischen Prachtbau aus dem 19. Jahrhundert auf einer Anhöhe über der Ilm. Hier führt Klunkert gewissermaßen fort, was Prozessbeobachter Anton Vollert vor mehr als 160 Jahren begann. Sie erforschte die Gerstenbergk’schen Fälschungen mit dem Ziel einer Ausstellung. Die Schiller-Nachahmungen sind heute genauso sorgsam behütet und wohltemperiert untergebracht wie der echte handschriftliche Nachlass der beiden Namensgeber des Archivs und anderer herausragender Vertreterinnen und Vertreter des deutschen Geisteslebens wie Christoph Martin Wieland, Johann Gottfried Herder oder Bettina und Achim von Arnim. „Wir passen sehr auf, dass unsere Hunderttausenden von Handschriften erhalten bleiben“, sagt Klunkert. So ist es etwa verboten, einen Kugelschreiber in den Lesesaal mitzunehmen. Ein unachtsamer Tintenstrich soll kein unersetzliches Manuskript beschädigen.
Gerstenbergks Falsifikate finden reißenden Absatz
Im Herbst 2023 präsentiert das Goethe- und Schiller-Archiv erstmals eine Ausstellung der Gerstenbergk’schen Pseudomanuskripte. Klunkert erhofft sich einen Sogeffekt: „True Crime-Stories sind im Augenblick sehr en vogue. Da passt unsere Ausstellung gut zum Zeitgeist.“ Die Kuratorin möchte mit dem kuriosen Fälscherfall auch interessierte Laien für den Reichtum dieses Schatzhauses der deutschen Literatur begeistern. „Dann hätte der Schwindler Gerstenbergk doch ein gutes Werk getan“, sagt sie mit einem Augenzwinkern.
Heinrich von Gerstenbergk war schon vor seiner Fälscherkarriere eine schillernde Figur. Der Sohn eines Schneiders und Lotterieeinnehmers entstammt einer Erfurter Adelsfamilie. Er hatte zwar das Gymnasium in Weimar besucht, wohl aber nie mit dem Abitur abgeschlossen. Er selbst bezeichnete sich als „Architekt und Geometer“, lebte von Mathematik-Nachhilfestunden und schrieb Sachbücher wie „Arithmetisches Examinatorium“ oder „Der Erdmandel-Bau und das in ihm aufgefundene Geheimniß, schnell reich zu werden“, erschienen 1849. Dem Jahr, in dem er einen weitaus schnelleren Weg gefunden hatte, sich die Taschen zu füllen.
Ab 1849 lieh er sich aus der Weimarer Bibliothek sämtliche Literatur über und von Friedrich Schiller. Bald tauchten auf dem deutschen Autographenmarkt Schiller’sche Manuskripte in Hülle und Fülle auf und fanden reißenden Absatz.
Die Königlich-Preußische Bibliothek in Berlin etwa erwarb 1852 insgesamt 179 Seiten „Schiller“, darunter vermeintliche Handschriften einiger seiner berühmtesten Werke wie „Das Lied von der Glocke“ oder „Die Räuber“. Auch Großherzog Carl Friedrich von Sachsen-Weimar-Eisenach sowie dessen Sohn Carl Alexander sicherten sich Texte aus der Feder des gefeierten Dichters. Und natürlich gehörten viele Bibliothekare, Buchhändler und Personen aus dem deutschen Bildungsbürgertum zu den Käufern, unter ihnen der Komponist Franz Liszt.
Es hatte bis dahin in Deutschland keine nennenswerten Skandale um die Echtheit von Handschriften gegeben; auch deshalb gab es kein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Menge an Schiller-Manuskripten, die auf einmal im Umlauf waren. Selbst Schillers Tochter Emilie, beim frühen Tod ihres Vaters 1805 noch nicht mal ein Jahr alt, und Goethes langjähriger Sekretär Friedrich Kräuter, stellten sich ohne Wenn und Aber hinter die Echtheit der Manuskripte.
Außerdem ging Gerstenbergk raffiniert vor: Ein Großteil seiner Fälschungen wurde von Personen weiterverkauft, die hohes Ansehen genossen. Die beiden wichtigsten waren Karl Große, Angestellter der Großherzoglichen Bibliothek Weimar, der sich durch seine täglichen Kontakte mit Literaturbegeisterten schnell einen Ruf als Anlaufstelle für Autographensammler erwarb. Er war es, der von Schillers Tochter Emilie über 1400 Taler abkassierte – für mehr als 400 Manuskripte angeblich aus der Hand ihres Vaters. Sogar die verwitwete Hofrätin Caroline Riemer, eine frühere Sekretärin Goethes und Gesellschafterin von Goethes Frau Christiane, ließ sich auf Gerstenbergks windige Geschäfte ein.
Es war dann der Heilbronner Autographenhändler Wilhelm Künzel, der den Anstoß zum Auffliegen des Megabetrugs gab. Sein Onkel, ebenfalls Handschriftenliebhaber, hatte um 1820 echte Briefe Schillers erworben. Künzel verglich die Originale mit den Papieren Gerstenbergks und erklärte Letztere sämtlich für unecht. 1852 stellte er bei einem Besuch in Weimar Gerstenbergk zur Rede und erhielt die kühle Antwort: „Ich habe die Handschriften für echt bekommen und gebe sie auch für echt wieder weg.“
Der Betrug fliegt auf – die Staatsanwaltschaft ermittelt
1854 kontaktierte Künzel den Berliner Professor und ausgewiesenen Schiller-Kenner Theodor Dielitz mit seinem Befund – und erhielt Rückenwind. Dielitz war selbst auf vier Manuskripte hereingefallen, hatte den Betrug jedoch schnell entlarvt und sein Geld von Händlerin Riemer zurückgefordert. Riemer wiederum, tüchtig im Geschäft, verhökerte einige der zweifelhaften Remittenden an einen Buchhändler in Frankfurt. Doch auch dieser wurde misstrauisch und bat Dielitz um seine Expertise. So schloss sich der Kreis. Auch dem Buchhändler erstattete Caroline Riemer den Kaufpreis.
[1] „Betrüglich fabricirt“: Schillers Ballade „Die Kraniche des Ibykus“ hat Gerstenbergk gleich zweimal abgekupfert – und zu barer Münze gemacht, © Klassik Stiftung Weimar – Goethe- und Schiller-Archiv Weimar
[2] Meisterhaft echt: 1802 schrieb Schiller diesen Brief an den Juraprofessor Gottlieb Hufeland. Derlei Originale halfen, den Fälscher zu überführen, © Klassik Stiftung Weimar – Goethe- und Schiller-Archiv Weimar
Zu ihrem Pech aber schickte der erboste Frankfurter eine Abschrift von Dielitz’ Urteil über die wundersamen Manuskripte im Dezember 1854 an die Polizeidirektion Weimar.
Die Staatanwaltschaft übernahm. Sie verhörte zuerst Caroline Riemer. Die Hofrätin trat die Flucht nach vorn an, übergab der Polizei alles, was sie noch an „Schiller“-Material besaß, und erstattete gegen Gerstenbergk eine Anzeige wegen Betrugs. Bei Karl Große, dem anderen Hauptverkäufer, fanden die Ermittler 160 dubiose Schiller-Manuskripte. Auch er zeigte Gerstenbergk an und gab sich als unschuldiges Opfer.
So saß am 27. Februar 1856 nach mehr als einem Jahr Untersuchungshaft nur Heinrich von Gerstenbergk auf der Anklagebank. Es war der erste große Fälschungsprozess der neueren deutschen Geschichte. Schon im Januar 1855 hatte das Großherzogliche Kreisgericht Weimar über die Presse alle Personen im Besitz verdächtiger Schiller-Manuskripte aufgefordert, diese unverzüglich abzugeben. Die Resonanz auf diese Anzeige ließ die Zahl der sichergestellten Manuskripte auf mehr als 400 anwachsen.
Dieses Konvolut von Texten übergab das Gericht einem Expertenteam aus Philologen, Kunstsachverständigen, Kupferstechern, Mathematikern, einem Hofapotheker und einem Beamten der Geheimen Staatskanzlei in Weimar. Nach monatelanger, akribischer Analyse kamen die Sachverständigen zu dem Schluss, es lägen „objective, unumstößliche Beweise“ dafür vor, „dass die Masse der Gerstenbergkschen Schiller- Manuskripte betrüglich fabricirt ist“.
„Es war der erste große Fälschungsprozess der
neueren deutschen Geschichte.“
„Beim wahren Schiller änderte sich die Schrift je nach Lebensalter oder gesundheitlichem Befinden beträchtlich. Beim falschen Schiller aber blieb sie praktisch immer gleich. Obwohl zwischen den Manuskripten von ,Die Räuber‘ und ,Wilhelm Tell‘ 23 Jahre lagen“, fasst Handschriftenexpertin Klunkert einen der gewichtigsten Befunde zusammen. Außerdem entdeckten die Weimarer Sprachfahnder 41 Manuskripte in doppelter Ausfertigung, darunter Klassiker wie „Die Kraniche des Ibykus“. Schillers Gedicht „Die Götter Griechenlands“ gab es sogar dreifach!
Dass Gerstenbergk laut Gutachterbefund in den frei erfundenen, angeblichen Schiller-Schwank „Herr und Diener“ einige „thüringische Idiotismen“ rutschten, die dem Schwaben Schiller wohl nicht passiert wären, trug auch nicht gerade zur Glaubwürdigkeit bei, wie Schiller-Verehrer Vollert in seinem 42-seitigen Prozessbericht verächtlich anmerkt. Doch wirklich wütend machten Vollert die literarische Qualität dieses Schwanks und anderer enttarnter Machwerke sowie die erfundenen Passagen, die Gerstenbergk in Schillers Originaltexte mischte. „Es giebt keinen Ausdruck für die Unverschämtheit, so Etwas Schillern beizulegen“, urteilt Vollert. Und weiter: „Gehaltlose Sudeleien eines Poetasters ohne Anlage und ohne Bildung.“
Der Fälscher beteuert seine Unschuld, aber ohne Erfolg
Um seinen Fälschungen die nötige Patina zu geben, war Gerstenbergk dauernd auf der Suche nach geeigneten Papierbögen gewesen. Das sagten mehrere Zeugen aus. Ein Weimarer Kaufmann etwa gab zu Protokoll: „Gerstenbergk hat ungefähr vier Jahre sehr oft und sehr viel Papier von alten Acten bei mir gekauft; die Actenblätter waren, wie ich genau weiß, sämmtlich nicht beschrieben, rein und vergilbt. Er kaufte manche Woche zwei Mal von mir solches Actenpapier.“
Am 28. Februar 1856 verkündete das Gericht nach nur zwei Verhandlungstagen das Urteil: wegen „Betrugs“ und „mit Rücksicht auf die große Beharrlichkeit bei Ausübung des Verbrechens“ zwei Jahre Strafarbeitshaus und Entziehung der staatsbürgerlichen Rechte für drei Jahre. Gerstenbergk, der bis zum Schluss seine Unschuld beteuert hatte, saß dann aber nur ein gutes Jahr im Strafarbeitshaus Eisenach ab. Danach wurde er unter Anrechnung der Untersuchungshaft und wegen guter Führung entlassen.
Wie gewinnreich sein Schiller-Geschäft für ihn selbst wirklich war, ist nicht bekannt. Nach 1860 führte Gerstenbergk mit seiner zweiten Frau ein unstetes Wanderleben zwischen Weimar, Erfurt und Eisenach. Das Paar mit drei Kindern wechselte häufig die Wohnung, meist waren es keine guten Adressen. 1887 starb Gerstenbergk im Alter von 72 Jahren in Eisenach. Es hätte dem „berühmten mathematischen Schriftsteller“, so die Todesanzeige, sicher geschmeichelt, dass Schiller à la Gerstenbergk heute hochpreisig gehandelt wird. 2014 verkaufte ein Stuttgarter Antiquariat eine Buchbestellung Schillers aus Gerstenbergks Feder für 1500 Euro an eine private Sammlerin.
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