Der Bibliotheksbrand als Geschichtszeichen
von /Bibliotheksdirektor Reinhard Laube über die Herzogin Anna Amalia Bibliothek als Zukunftsarchiv.
Am 2. September 2004 brannte die Herzogin Anna Amalia Bibliothek: Bücher, Musikalien, Bilder und Büsten wurden zum Teil schwer brandgeschädigt geborgen. Danach war nichts wie vorher. Und nach 20 Jahren wird deutlich: Der Brand von 2004 ist für Kultureinrichtungen zum Geschichtszeichen geworden: Erinnerung wird zu einer Gegenwart gestaltenden Aufgabe, die Bibliothek verwandelt sich in ein Zukunftsarchiv. Mit dieser Erkenntnis startet die Herzogin Anna Amalia Bibliothek das Projekt Future Memory und beschreibt ihre Aufgaben neu.
Immanuel Kant hat mit Bezug auf die Französische Revolution von Geschichtszeichen gesprochen, an denen sich Menschen bei der Gestaltung der Zukunft orientieren können. Im Rückblick ist der Brand der Weimarer Bibliothek im Jahr 2004 ein Geschichtszeichen, das ein neues Bild von Bibliothek und kultureller Überlieferung erzeugt: Die Zivilgesellschaft macht sich das Schicksal der Bibliothek zu eigen, hilft bei der Rettung der Bücher in der Brandnacht, sammelt für den Wiederaufbau des Gebäudes und der Bestände und erneuert so die Idee der Bibliothek. Sie ist offen für den Gebrauch und die Deutung ihrer Sammlungen sowie die Wahrnehmung als öffentlicher Raum.
Bibliotheken brennen, das ist nichts Neues und in Kriegszeiten erschreckend aktuell. Missmanagement, überholte Technik und Naturereignisse können ebenso Katastrophen auslösen wie Krieg, Gewalt und Brandstiftung. Im Fall absichtlicher Zerstörung geht es darum, mit Bibliotheken kulturelle Identität oder vermeintliche Herrschaftsverhältnisse auch symbolisch anzugreifen.
Der Brand der Weimarer Bibliothek im Jahr 2004 ist auf den ersten Blick aus der Zeit gefallen – unerwartet wurde er zur Erfahrung und zum Zeichen einer neuen Zeit: Die Fragilität der kulturellen Überlieferung wird sichtbar und zur Frage von Rettung und Gestaltung in einem Akt der gesellschaftlichen Übernahme von Verantwortung. Kulturelle Überlieferung wird eben nicht einfach aufbewahrt, sie ist eine Entscheidung der Gegenwart und Frage der Gestaltung.
Dieser Prozess beginnt 2004 mit Menschenketten in der Brandnacht, die Bücher, Kunstwerke und Handschriften bergen – Feuerwehren, Sportvereine, Bürgerinnen und Bürger. Und er setzt sich fort mit der Entscheidung, das Bergungsgut nicht verloren zu geben, sondern zu bearbeiten: Aus Bergungsgut wurde durch Prägung des Begriffs „Aschebuch“ wieder kulturelle Überlieferung. Mit einer eigens entwickelten und bis heute einzigartigen Technik werden verklumpte Brandbücher in großen Mengen wieder lesbar gemacht. Ebenso war es eine Entscheidung, das Gebäude in Rekordzeit zu sanieren. Der rekonstruierte Rokokosaal vermittelt eine Idee von Bibliothek und ist offen für künftige Interpretationen dieses Sammlungsraums.
Ist das aufregend? Ja! Das Unglück von 2004 lässt keinen Zweifel: Unsere kulturellen Ordnungen sind fragil. Es gibt keine Garantien. Wir müssen in der Gegenwart Verantwortung für die kulturelle Überlieferung übernehmen. Das bedeutet im Katastrophenfall, auch aus Bergungsgut auf der Höhe der Zeit Kultur zu machen. So wie Gebäude und Materialien in ihrer Erhaltung gestaltet werden, so bilden wir durch Fragen Sammlungen und vernetzen sie mit unseren Möglichkeiten. Ohne Verankerung in der Gesellschaft sind die Sammlungen ohne Perspektive.
Perspektiven auf Konstruktionen der kulturellen Überlieferung bündelt die Bibliothek für die kommenden Jahre in ihrem Projekt Future Memory, der Ausrichtung auf ein Zukunftsarchiv Bibliothek. Dazu zählen unter der Überschrift „Sammlungen entdecken“ neue digitale Suchsysteme und Erschließungsprojekte, um Sammlungen zu bilden und zu vernetzen. „Originale erhalten“ bedeutet, durch Einsatz von neuen technischen Entwicklungen Materialien für künftige Nutzungen zu bearbeiten. „Zeitzeugen berichten“ bindet Perspektiven der gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure ein, von denen die Idee der Bibliothek getragen wird und deren Beiträge aufgezeichnet und Teil der Sammlungen werden.
Mit Future Memory gestaltet die Bibliothek Sammlungen, kulturelle Überlieferungen und lädt Zeitzeugen ein, ihre Erinnerungen und Erwartungen an die Bibliothek zur Verfügung zu stellen. Ergebnisse und Projekte werden aus Anlass des 20. Jahrestages im September 2024 vorgestellt.





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